Arto Ratamo 7: Der Finne
Kalastajasaarento, Petsamo, Suursaari, Tytärsaari, Lavansaari, Seiskari, Porkkala. Genauere Karten gab es von Viipuri, Käkisalmi und Sortavala. Dann fiel sein Blick auf eine gerahmte Zeitungsseite aus dem Jahre 1940, die neben russischsprachigen Artikeln hing:
»Der wahre Grund für die Zerstörung des Passagierflugzeuges Kaleva ist ungeklärt. Die Explosion in der Maschine wurde durch einen Fremdfaktor ausgelöst, der kein wesentlicher Bestandteil des Flugzeugs war.«
Voller Interesse las er alle gerahmten Zeitungsausschnitte über die finnische Passagiermaschine, die am 14. 6. 1940 vor Tallinn von der Sowjetunion abgeschossen worden war. Es wurde der Verdacht geäußert, an Bord hätten sich Gold und geheime Diplomatenpost befunden.
Die Zeit verging wie im Fluge, während Ratamo Bilder, Karten und Zeitungsausschnitte studierte und in den Büchern blätterte, die er vom Fußboden aufgehoben hatte. Otto Forsmans Arbeitszimmer war eine Schatzkammer der finnischen Kriegsgeschichte.
»Das dürfte reichen«, sagte Eerik Sutela schließlich enttäuscht und stopfte ein paar Unterlagen in seine Tasche. »Ich habe hier nichts Wichtiges gefunden, nur ein paar uralte Aktien. Die bringe ich zur Bank in ein Schließfach, ich muss dort sowieso einige Dinge erledigen.«
Sutela und Ratamo verließen Otto Forsmans Wohnung. Sie vereinbarten, sich am nächsten Vormittag um halb elf im Foyer des Inlandterminals auf dem Flughafen Helsinki-Vantaa zu treffen, und verabschiedeten sich.
Der dumpf dröhnende Käfermotor startete beim zweiten Versuch. Ratamo steuerte sein Kabrio auf Heimatkurs und war zufrieden, dass er sich den ganzen Abend in aller Ruhe auf die Russlandreise vorbereiten konnte. Er würde sich über Eerik Sutela und ihre Reiseführerin informieren und sich richtig ausschlafen, um die Müdigkeit nach der durchzechten Nacht loszuwerden. Sutela hatte keinen sehr geselligen Eindruck gemacht, das störte ihn, schließlich konnte es gut sein, dass sie auf ihrer Wanderung mehrere Tage miteinander verbringen mussten.
8
Helsinki, Montag, 7. August
»Was Fliegen sind den müßigen Knaben, das sind wir den Göttern; sie töten uns zum Spaß.«
In der stockdunklen Einzimmerwohnung in Kruununhaka fiel das Buch in Blindenschrift zu Boden, als Otto Forsman es wieder hörte: Das Geräusch, das ihn peinigte, seit er sich vor einer Woche in seinem Versteck eingeschlossen hatte. Der schrille Ton wurde höher und dann wieder tiefer, aber nicht im Rhythmus des Ein- und Ausatmens und ohne einen Höhepunkt zu erreichen. Möglicherweise handelte es sich gar nicht um Geräusche der Wolllust, vielleicht war es ein Hund, der jaulte. In seiner eigenen Wohnung hätte Forsman die Quelle des Lärms mit einigen Schlägen an den Heizkörper sehr schnell zum Schweigen gebracht, hier jedoch musste er lautlos und unsichtbar sein. Niemand durfte etwas von ihm wissen, am allerwenigsten seine Verfolger. Sein Ende durfte nicht kommen, bevor das »Schwert des Marschalls« in Sicherheit war.
Der Krach hörte auf. Gott sei Dank. Forsman hob das Buch auf und betastete die Seiten, bis er schließlich die Stelle gefunden hatte, an der er unterbrochen worden war. Er setzte sich in seinem Sessel bequem zurecht, richtete seine Augen, die nichts sahen, auf die Wand des verdunkelten Raumes und fuhr mit dem Finger über die Zeilen in Blindenschrift:
»O narrt mich nicht! Ich bin ein schwacher, kindischer alter Mann, achtzig und drüber, keine Stunde mehr noch weniger; und gradheraus gesagt, ich fürchte fast, ich bin nicht recht bei Sinnen.«
Was für ein deprimierender Satz. Er legte das Buch aufden Couchtisch neben seinen Insulinpen und strich über seinen Kinnbart. Er bereute, keine andere Lektüre mitgenommen zu haben als Shakespeares »König Lear«. Die Geschichte ließ ihn ständig an Eerik und dessen Aufgabe denken. Genau wie der alte König Lear hatte auch er sich sein ganzes Leben lang vorgestellt, die Zuneigung des Kindes für seinen Vater sei eine Selbstverständlichkeit. Er war ein Idiot. Wenn Eerik das »Schwert des Marschalls« nicht fände, würde er seinen Vater bis ans Ende seiner Tage für einen gefühllosen Tyrannen halten. Und zu Recht. Er hatte Eerik übermäßig streng erzogen, um sicherzustellen, dass sein Sohn eines Tages lieber das »Schwert des Marschalls« retten würde als ihn. Dieser Tag war nun näher gerückt als je zuvor.
Er hatte mit der Ausbildung Eeriks für die ihm bevorstehende Aufgabe angefangen, als der Junge
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