Arto Ratamo 7: Der Finne
»Und das, obwohl er an demselben Tag verschwunden ist, an dem die Schwester umgebracht wurde. Dein Vater dürfte der Letzte gewesen sein, den die Frau vor ihrem Tod getroffen hat.«
»Kaffee oder Tee?« Durch die Frage der Stewardess gewann Sutela etwas Zeit. Und das war auch gut so, jetzt musste er beim Lügen überzeugend wirken. Ratamo war immerhin Ermittler der SUPO und sicher bei Vernehmungen sehr erfahren.
Er bestellte Tee, biss in seine Semmel und kaute in aller Ruhe. »Vorläufig gibt es keinerlei Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden meines Vaters und dem Tod der Frau. Das hat der Polizist gestern so gesagt. Ich versuche Optimist zu sein und denke einfach, dass Vater bald irgendwo wieder auftauchen wird. Er ist offen gesagt eine … ziemlich eigenwillige Person. Ich würde mich nicht wundern, wenn er nur aus lauter Bosheit verschwunden ist, um mich zu ärgern.«
Ratamo fiel es schwer, zu glauben, was er da hörte. »Ent schuldige mal, dein Vater ist doch ein blinder, alter Mann. Es dürfte ziemlich unwahrscheinlich sein, dass …«
»Bei Diabetes erblindet der Mensch allmählich, Vater hatte einige Jahre Zeit, zu lernen, wie man mit einem schlechten Sehvermögen zurechtkommt. Außerdem ist das Sehen nur ein Sinn unter mehreren, das Erblinden führt oft dazu, dass die anderen Sinnesorgane viel empfindlicher werden. Auch mein Vater riecht und hört wie ein Spürhund«, versicherte Sutela und fuchtelte dabei auf engstem Raum mit seinen Händen herum. »Falls Vater etwas in der Stadt zu erledigen hat, dann schafft er das auch allein, wenn er will. Die Frau hat er vor allem engagiert, um sich ganz seinem Hobby widmen zu können – der Geschichtsforschung.«
Ratamo schwieg, obwohl er große Lust hatte, Sutela noch ein wenig ins Kreuzverhör zu nehmen. Der Mann wusste mehr, als er zugab, sonst würde er das spurlose Verschwinden Otto Forsmans nicht so gelassen hinnehmen.
»Die Führerin müsste uns auf dem Flugplatz erwarten«, sagte Sutela, um das Thema zu wechseln, dann setzte er sich bequem zurecht und schloss die Augen.
Die Schlösser von Ratamos uralter Aktentasche klickten, er nahm die Unterlagen heraus, die er am Vorabend von der SUPO bekommen hatte. Seine ehemalige Lebensgefährtin und jetzige Kollegin Riitta Kuurma hatte sie ihm vorbeigebracht. Ratamo überlegte, ob er sich Sorgen machen musste, weil er und Riitta gestern bis nach Mitternacht bei Gorgonzola-Pasta, einem guten Wein und Riittas italienischen Schlagern über ihre gemeinsamen Jahre geredet hatten. Zu seinem Erstaunen wurde ihm klar, dass er sich nach dieser Zeit sehnte.
Rasch vertiefte er sich in Sutelas Personenprofil und stellte verdutzt fest, dass der Geschichtsprofessor mit den glatten Wangen nur drei Jahre jünger war als er. Dann fand sich in der Zusammenfassung noch eine viel größere Überraschung: Eerik Sutela hatte am University College einExamen in forensischer Archäologie abgelegt. »Die Untersuchung von Verbrechen und Tatorten mit archäologischen Methoden. Man ermittelt im Gelände Schauplätze von Verbrechen, untersucht die Tatorte und stellt die Verbrechen nach«, las Ratamo in Riitta Kuurmas Definition der forensischen Archäologie. Warum hatte Sutela diese Prüfung nicht erwähnt?
Das Käsebrötchen fiel Ratamo aus der Hand, als er auf die nächste Überraschung stieß, und die war ein echter Hammer: Der Vater von Sutelas vor zwei Jahren verstorbener Frau Marissa war der Chef der wissenschaftlichen und technischen Abteilung des britischen Auslandsgeheimdienstes. Ratamos Phantasie erwachte; vielleicht waren sie gar nicht unterwegs nach Russland, um dort Urlaub zu machen? Eerik Sutela war Fachmann auf dem Gebiet der archäologischen Untersuchung von Tatorten und Schwiegersohn eines führenden britischen Geheimdienstmannes …
Die Maschine verlor an Höhe, und es knackte in Ratamos Ohren. Er warf einen Blick auf seinen Nachbarn, der ein Schläfchen machte. Sutela hatte in seinem Leben Schweres durchgemacht: den Verlust der Mutter, die strenge Erziehung durch den Vater, den Tod der Frau … Ratamo schluckte so lange, bis die Ohren wieder frei waren, und beschäftigte sich dann mit dem Personenprofil der Führerin, die Sutela angeheuert hatte. Taru Otsamo, geboren in Ivalo, zweiunddreißig Jahre alt, Industriekauffrau mit Abitur, ein Kind, unverheiratet, wohnhaft in Helsinki in den Jahren … nichts Ungewöhnliches. Ratamo steckte die Unterlagen wieder in seine Tasche, und im selben Moment setzte
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