Arto Ratamo 7: Der Finne
dabei gewesen, ihre Tasche im Büro zu packen und … Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Forsman hat gesagt: ›Wenn ich nach Virola muss‹, oder so etwas Ähnliches. Ich weiß nicht mehr, womit das zusammenhing, aber …«
»Denk nach!«, fuhr der Mann sie an und versetzte ihr einen Stoß gegen die Schulter. »Ich kann mich doch, um Gottes willen, nicht an den genauen Wortlaut jedes Telefongesprächs erinnern. Das sind jeden Tag ein paar Dutzend«, protestierte Suvi Tiitinen. Sie war den Tränen nah und schluckte hörbar. »Forsman wollte sich vergewissern, dass ich weiß, was zu tun ist, wenn er nach Virola muss und an einem Dienstag oder Freitag nicht anrufen kann. So etwas Ähnliches hat er gesagt – er habe Angst, dass er nach Virola muss. Er hat davon gesprochen, als wäre es ein Gefängnis, deswegen ist mir das in Erinnerung geblieben … Ich habe gedacht, jetzt ist der Alte völlig verwirrt.«
Suvi Tiitinen hörte ein Kratzen auf dem rauen Beton, dann fiel die Bodentür krachend ins Schloss. Schritte verklangen auf der Treppe, der Wind heulte im Dachstuhl, und die Anwältin bemerkte, dass der Fußboden unter ihr pitschnass war.
12
Virtaniemi, Mittwoch, 9. August
Die stundenlange Wanderung durch den dunklen, unwegsamen Wald Lapplands forderte ihren Tribut. Arto Ratamo war so müde, dass er schon ernsthaft fürchtete, den Marsch bis nach Finnland nicht zu schaffen. Der beginnende Regen setzte der unangenehmsten Wegstrecke seines Lebens noch die Krone auf. Durch die Anstrengung waren die Beine übersäuert, außerdem plagten ihn Magenkrämpfe. Er hatte Hunger. Und er bereute es bitter, zugelassen zu haben, dass seine körperliche Verfassung derart desolat war. Es fiel ihm schwer, mit Taru Otsamo, einem Perpetuum mobile, und Sutela, der manchmal sogar wie ein Dauerläufer wirkte, mitzuhalten. Nach ihrer Flucht aus der Teufelskirche waren sie zunächst bis zum Einbruch der Dunkelheit durch den Wald gestapft, und nun liefen sie am steinigen Ufer des Paatsjoki entlang. Bald würde ihre Wanderung endlich vorbei sein, doch der schwierigste Teil stand ihnen noch bevor – die Überquerung der Grenze.
Ratamo atmete mit offenem Mund gierig den Sauerstoff ein, plötzlich tauchte im Lichtkegel seiner Stirnlampe eine blutrote Hand auf, und alle drei blieben schlagartig stehen.
»Die Grenzzone«, flüsterte Taru Otsamo und zog Eerik Sutela so heftig am Ärmel, dass der völlig erschöpfte hochaufgeschossene Mann genau in einer Pfütze auf die Knie fiel und seine Brille verlor.
Sutela schämte sich, weil sie seinetwegen nicht schnell genug vorankamen. Er wischte die Brille ab und versuchte eine Haltung zu finden, in der sich seine Muskeln nicht vorSchmerz verkrampften. Gleich am Anfang hatten die anderen eine Weile warten müssen, bis seine Migränetabletten wirkten, und während des Marsches durch den Wald hatte er nur mit großer Mühe dem Tempo seiner Begleiter folgen können. Seine Kräfte reichten schlicht und einfach nicht aus, er war in den letzten zehn Stunden mehr durch den Wald gelaufen als in seinem ganzen Leben vorher. Außerdem schmerzte der verstauchte Knöchel. Hubschrauber und Männer mit Gewehren, die Flucht durch die russische Einöde und der bevorstehende illegale Grenzübertritt gehörten ganz und gar nicht in die Welt, in der er bisher gelebt hatte. An der Universität war Angst ein seltener Gast, und spannend wurde es höchstens bei der Bewerbung um eine Stelle.
»So nahe an der Grenze dürften die Handys doch schon funktionieren?«, fragte Ratamo, und Taru Otsamo nickte.
Sollte er in Finnland anrufen und berichten, wie übel sie in der Klemme steckten?, überlegte Ratamo. Was sollte das denn nützen? Die SUPO würde sowieso niemanden zu ihrer Unterstützung nach Russland schicken, und wenn es ohnehin nichts brachte, wollte er am Telefon auch nicht erzählen, dass er die Absicht hatte, in seinem Urlaub die russische Grenze illegal zu überschreiten. Vor allem deshalb nicht, weil er nicht wusste, warum die Russen in Jäniskoski geschossen hatten: Um sie zu töten, zu warnen oder aus irgendeinem anderen Grund? Eerik Sutela jedoch wusste, worum es ging, davon war Ratamo überzeugt. Sobald sich die Gelegenheit bot, würde er den Mann ausquetschen und die Wahrheit aus ihm herausholen.
»Dort sind doch nicht etwa Minen?«, fragte Sutela und blickte mit ängstlicher Miene in Richtung Grenze, die hinter dem Regenvorhang nur verschwommen zu sehen war. Er stand so dicht neben Taru, dass er sie
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