Arto Ratamo 7: Der Finne
er.
Taru Otsamo schüttelte den Kopf. »Hier findet man kein Netz fürs Telefon, das habe ich euch doch an der Grenze gesagt! Wir sind gezwungen, allein zurechtzukommen!«
Auf einmal ließ das Dröhnen der Rotoren nach, entfernte sich und hörte schließlich ganz auf.
Diesmal packte Ratamo die Führerin rechtzeitig an ihrer Jacke, bevor sie hinausstürzen konnte.
»Wir haben jetzt keine Zeit … schnell zum Auto«, rief Taru Otsamo und riss sich los.
»Die wissen, wo der Wagen steht, sie müssen uns ja gefolgt sein. Das Auto wird garantiert überwacht. Von hier sind es bis nach Finnland nur etwa fünfzehn Kilometer. Wir laufen in Richtung Grenze. Im Wald findet man uns nicht.«
Sutela sah schockiert aus. »Die Pässe und Visa sind im Auto.«
»Die Grenze wird in dieser Gegend nicht sonderlich genau kontrolliert, wir schaffen das schon bis Finnland«, erwiderte Ratamo, und es klang so, als wäre er sich ganz sicher. »Wir werden doch nicht hierbleiben und darauf warten, dass man uns erschießt.«
Taru wurde klar, dass Ratamo Recht hatte. »Die norwegische Grenze ist nur etwa zwei Kilometer entfernt, aber dazwischen liegt der Paatsjoki.«
»Wir sollten nicht als Zielscheibe ins Wasser steigen, der Wald bietet uns gute Deckung«, schlug Ratamo vor.
Taru Otsamo stürmte hinaus, und die beiden Männer folgten ihr. Der Aufstieg aus der Schlucht über die steile Felswand zehrte an den Nerven, eine Weile glichen sie tatsächlich fast unbeweglichen Zielscheiben. Dann im Gelände wurde ihr Tempo nur wenig schneller, das dichte Gebüsch und das Geröll zwangen sie zu einer Art Slalom. Ratamo schnaufte laut, Sutelas Gesicht war schmerzverzerrt, und auch Taru Otsamo musste sich bei der Suche nach dem besten Pfad ernsthaft anstrengen.
Ratamo dachte, die größte Gefahr sei schon vorüber, doch da sah er einen Kahlschlag, der sich vor ihnen über mehrere Hektar ausdehnte. Zwischen den Wurzelstöcken, Ästen und Baumstümpfen kamen sie noch langsamer voran. Sie mussten es schaffen, die freie Fläche zu überqueren, bevor der Hubschrauber zurückkehrte.
Sutela schnappte nach Luft, aber der Sauerstoff reichte nicht. Seine Muskeln schmerzten, und seine Lunge zerplatzte fast; er hatte das Gefühl, als würde er durch eine Plastiktüte atmen, und sein Rucksack schien eine Tonne zu wiegen. Er wischte seine beschlagenen Brillengläser ab und sah Ratamo und Taru etwa zehn Meter weiter vorn durch das Gelände stapfen, und der Abstand wurde immer größer. In dem Moment rutschte er auf einem Baumstumpf aus, strauchelte und verstauchte sich den Knöchel.
Angst erfasste ihn, als er das gleichmäßige Dröhnen wieder hörte. Es nahm zu, genau wie der bohrende Migräneschmerz. Sutela war nur ein paar Dutzend Meter vom Waldrand entfernt, als ihm durch die Luftwirbel Kiefernnadeln ins Gesicht flogen. Er sah, wie Taru und Ratamo zwischen den Bäumen Deckung fanden und geriet in Panik. Dann krachte ein Schuss, und Sutela erstarrte. Ihm wurde übel. Er wandte den Kopf zum Himmel und schaute den Mann mit dem Gewehr direkt an. Würde der Soldat schießen, wenn er zum Waldrand rannte? Plötzlich fiel ihm Taru Otsamos Übersetzung in der Teufelskirche ein:
»Sie fordern uns auf, das Dokument herauszugeben.«
Sutela schwenkte die vergilbten Blätter aus der Kassette in der Luft, bis er sicher war, dass der Mann mit dem Gewehr sie bemerkte. Dann warf er sie auf einen Baumstumpf und lief weiter. Er atmete nicht, ruderte nur mit den Armen, um schneller zu werden und wartete auf den Schuss. Vor Angst verschwamm alles um ihn herum, der Waldrand kam nur schmerzlich langsam näher. Noch ein paar Meter …
11
Helsinki, Dienstag, 8. August
Eine fünfzigjährige blonde Frau stand im Flur ihrer Dreizimmerwohnung in der Museokatu und betrachtete sich in der Spiegeltür des Kleiderschrankes. Das Werk war wieder einmal vollbracht – die Illusion Suvi Tiitinen. Das wurde Tag für Tag schwieriger: Die schlaflosen Nächte sorgten für Tränensäcke unter den Augen, das Alter ließ die Brüste erschlaffen, vom Rauchen war die Haut blass, der übermäßige Weingenuss führte zu geplatzten Äderchen auf den Wangen, und das schwere Essen im Restaurant verbunden mit der fehlenden körperlichen Bewegung tat ein Übriges. Die Teilhaberschaft an der Anwaltskanzlei Qvist & Weselius garantierte neben stattlichen Einkünften mit absoluter Sicherheit auch den körperlichen Verfall. Urlaub hatte sie das letzte Mal am Mittsommerwochenende gehabt, einen Tag, und den
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