Arto Ratamo 7: Der Finne
auch noch allein. In Kürze musste sie auf einer Versammlung des Lions-Clubs in Ruskeasuo einen Vortrag halten.
Suvi Tiitinen schlüpfte in die Stöckelschuhe von Anne Klein, nahm ihre Tasche, eine Diplomatico von Valextra, und öffnete die Wohnungstür. Sie tastete nach dem Lichtschalter im Treppenflur, als sie plötzlich an den Händen gepackt wurde. Jemand zog ihr einen Sack über den Kopf, und die Welt um sie herum wurde dunkel. Der Aufschrei blieb ihr im Halse stecken, weil sich eine kräftige Hand auf ihren Mund presste. Sie wurde hochgehoben, das Strampeln half nichts, o Gott, man schleppte sie die Treppe hinauf.
Die Tür zum Dachboden fiel krachend ins Schloss. Suvi Tiitinen spürte die kühle, feuchte Luft auf ihren nackten Beinen und roch durch den Sack den muffigen Gestank alter Kleidungsstücke. Die Angst trieb ihr das Blut ins Gesicht. Sie versuchte den Blick auf irgendetwas zu richten, obwohl unter dem schwarzen Stoff völlige Dunkelheit herrschte. Wer wollte sich an ihr rächen? Alternativen gab es mehr als genug, sie hatte sich im Laufe der Jahre Dutzende Leute zu Feinden gemacht: den IT-Unternehmer, dem sie einen Firmenkauf verdorben hatte, weil ihre Due-Diligence-Prüfung ein Reinfall gewesen war. Oder den Taschenfabrikanten, der wegen eines mangelhaften Letter of Intent einen Großauftrag verloren hatte. Oder den Besitzer einer kleinen Brauerei, der in den Konkurs getrieben worden war, weil sie den Paragraphen zur Vertragsstrafe schlecht formuliert hatte …
»Erzählen Sie uns alles, was Sie über einen Mann namens Otto Forsman wissen«, befahl ihr einer der beiden Männer auf Englisch; dabei gab er ihr einen Stoß und zwang sie, sich auf den Fußboden zu setzen.
Was würden die mit ihr machen? Warum stellte der ihr Fragen zu Otto Forsman, den sie nie getroffen hatte? Suvi Tiitinen versuchte in ihrem Gedächtnis Informationen über Forsman hervorzukramen, gleichzeitig war ihr Gehirn aber mit der Frage beschäftigt, in welchem Land man Englisch mit solch einem Akzent sprach wie die beiden Männer.
Ein Schlag klatschte auf ihren Kopf, und vor Schmerz kamen ihr die Tränen.
»Otto Forsman. Erzählen Sie etwas über den Mann.«
Würde man sie umbringen? Ihr Atem beschleunigte sich. Suvi Tiitinen griff nach dem Sack, da traf ein neuer Schlag ihre Schläfe.
»Ich habe Otto Forsman ja nicht einmal getroffen«, stammelte sie auf Englisch mit weinerlicher Stimme. »Der Mannist achtzig Jahre alt und mit ziemlicher Sicherheit dement oder verwirrt. Dieser Auftrag ist so merkwürdig …« Suvi Tiitinen dankte dem Himmel, dass es ihr endlich gelungen war, Otto Forsman aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auszugraben.
»Na los. Erzählen Sie alles, was Sie über Forsman wissen.« Der Mann hörte sich nun ein wenig verträglicher an.
Suvi Tiitinen überlegte fieberhaft. »Forsman habe ich vor Jahren übernommen, als der Gründer unserer Kanzlei, Jaakko Weselius, in Rente gegangen ist. Das heißt, ich habe Forsman als Mandanten bekommen. Der Mann hatte einen Brief aufgesetzt, den ich seinem Sohn senden sollte, falls Forsman mich zu einer vereinbarten Zeit jeden Dienstag und Freitag nicht anrief. Forsman hat jahrelang angerufen, erst Jaakko Weselius und dann mich. Aber am Dienstag vor einer Woche kam der Anruf nicht. Ist Forsman gestorben, hat er deswegen nicht angerufen oder …«
»Ich frage, und du antwortest!«, schnauzte der Mann sie an. »Red weiter.«
Die Anwältin beruhigte sich ein wenig. Sie würde auch diese kritische Situation mit ihrer Redegewandtheit überstehen. »In der Regel nannte Forsman nur seinen Namen und beendete das Gespräch, aber das letzte Telefonat, das am vorletzten Freitag, war anders. Forsman hörte sich besorgt an und fragte nach dem Brief, ob er parat liege und ich noch wisse, wohin ich ihn schicken sollte und Ähnliches. Ich …«
»Wo ist Forsman jetzt?«, fragte der Mann in strengem Ton.
»Keine Ahnung. Wieso? Ist er verschwunden? Ruft er deswegen nicht mehr an? Warum haben Sie …« Ein Schlag traf ihr Gesicht. Sie spürte den sauren Geschmack des Blutes in ihrem Mund. Wieder packte sie die Angst.
»Wo ist Forsman?«
Suvi Tiitinen ließ ihre kurzen Telefongespräche mit Forsman noch einmal Revue passieren, konnte sich aber an kein einziges erinnern, bei dem er irgendetwas erzählt hätte. Was sollte sie tun, müsste sie lügen? Sie konzentrierte sich auf das Telefongespräch am Freitag der vorletzten Woche. Forsman hatte sie am Morgen angerufen, sie war gerade
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