Arto Ratamo 7: Der Finne
Morgensonne blendeten ihn für einen Moment. Er bereute es, dass sie sich auf dem Weg von Murmansk hierher nicht noch mehr beeilt hatten. Wären sie vor Sonnenaufgang hier eingetroffen, dann hätte sich ihr Auftrag bedeutend einfacher ausführen lassen. Er öffnete die Tür zur Küche, hörte ein dumpfes Schnarchen und entspanntesich – in dem Haus war noch niemand wach. So musste es auch sein, denn sonst würde die Inszenierung nicht funktionieren.
Im selben Augenblick tauchte wie aus dem Nichts ein muskulöser Rottweiler auf, bellte einmal und schlug die Zähne in den Oberschenkel des Mannes. Der Stoff des Overalls und das Fleisch in seinem Maul dämpften das wütende Knurren des großen Hundes. Der Mund des Eindringlings verzog sich zu einem lautlosen Schrei, er griff in die Brusttasche seines Overalls, zog eine Pistole vom Typ OTS-23 Drotik heraus und schoss. Vorbei. Er zischte vor Schmerz, drückte den Schalldämpfer auf das rechte Auge des Hundes und schoss noch einmal. Der Köter sackte zu Boden, ließ aber nicht los. Der Mann biss die Zähne zusammen, packte die Kiefer des Tieres und zerrte so heftig daran, dass die Knorpel knackten. Schließlich konnte er sich von den kräftigen Zähnen befreien; warmes Blut floss die Wade hinunter. Erst als er sein Feuerzeug auf die Wunde presste und eine Mullbinde um sein Bein wickelte, hörte es auf zu bluten.
Niemand war bei dem Zwischenfall aufgewacht, man hörte immer noch das unregelmäßige Schnarchen. Rasch gingen die Eindringlinge dem Geräusch nach bis zum Schlafzimmer, der Mann schaute kurz hinein und nickte dann seiner Gefährtin zu. Sie traten ans Bett, holten die Lachgaskapseln heraus und zerdrückten sie. Die Frau mit Lockenwicklern im Haar strampelte einen Augenblick im Schlaf, der Mann jedoch rührte sich nicht. Das Schnarchen hörte auf. Das Ehepaar hatte genug Lachgas eingeatmet, um zumindest die nächsten fünfzehn Minuten tief zu schlafen, selbst wenn alle Wecker der Welt klingeln würden. Von dem Besuch in ihrem Haus würden sie nach dem Aufwachen nichts wissen.
Die beiden Eindringlinge verließen das Schlafzimmer.Die Frau öffnete die nächste Tür im Flur, schloss sie aber sofort, als sie hörte, wie ihr Gefährte flüsterte: »Sdjes.«
Die langen blonden Haare des kleinen Mädchens lagen um ihren Kopf ausgebreitet auf dem Kissen, als hätte der Wind sie durcheinandergewirbelt. Sie lächelte im Schlaf, die Augen bewegten sich unter den Lidern, und mit den Füßen stieß sie die Decke ein Stück beiseite. Ihr Traum wurde auch dann nicht unterbrochen, als das Lachgas im Rhythmus der Atmung in ihre Nase und schließlich in die Lunge strömte.
Die Frau sammelte die Kleidungsstücke des Mädchens in einen Rucksack, holte dessen Schuhe, die an der Haustür standen, und wickelte das Kind dann sorgfältig in eine mitgebrachte Decke. Der humpelnde Mann vergewisserte sich, dass er keine Blutspuren hinterlassen hatte, und suchte die Spezialkugel von seinem Fehlschuss, aber es war nirgendwo ein Einschussloch zu entdecken, weder im Sofa noch in den Stühlen oder in den Wänden … Es blieb keine Zeit, das ganze Gebäude Millimeter für Millimeter zu durchsuchen. Die andere Kugel war auf jeden Fall im Schädel des Hundes stecken geblieben, denn ein Austrittsloch fand sich nicht.
Die Frau öffnete die Haustür einen Spalt, und dann verließ das Paar mit dem toten Hund und dem schlafenden Mädchen das Haus durch den Hintereingang und ging rasch zu seinem Kleintransporter. Niemand beachtete sie, nicht einmal der Zeitungsbote, der von einem Briefkasten zum nächsten raste, als ginge es um Leben und Tod. Die beiden legten das Mädchen in den Kofferraum unter eine Wolldecke und stopften den Hundekadaver in einen Müllsack. Die Frau stieg ein, und der Mann steckte die Schuhe des Mädchens und ein paar Kleidungsstücke in seinen Overall und humpelte zur Rantatie. Er überquerte die Straße und blieb stehen, als er das Ufer des Ivalojoki erreichte.Kalter Dunst schwebte über dem Fluss wie eine herabgefallene Wolke.
Eine Weile betrachtete er die Wirbel in dem dahinströmenden Wasser, die den Fluss lebendig erscheinen ließen. Schließlich legte er den Mumin-Pyjama und die Schuhe des Mädchens direkt ans Ufer, ging eine Weile hin und her, um seine Fußspuren durcheinanderzubringen, überzeugte sich noch einmal davon, dass ihn an beiden Uferböschungen niemand beobachtete, und kehrte dann zufrieden zum Transporter zurück.
19
Helsinki, Donnerstag, 10. August
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