Arto Ratamo 7: Der Finne
kleine gelbe Notizbuch, das er immer eingeschlossen hat. Einmal habe ich es gelesen, nur zum Trotz, weil Otto es kurz auf seinem Schreibtisch vergessen hatte. Diese Eintragungen ergaben keinen Sinn, aus denen ist kein Mensch schlau geworden.«
39
Imatra, Samstag, 12. August
Taru Otsamo saß auf der Terrasse des Restaurants im Valtionhotelli in Imatra, trommelte nervös auf den Tisch und trank Bier gegen ihren Durst. In der flimmernden Hitze am steilen Uferhang des Vuoksi brachte auch der Wind keine Erleichterung, sie schwitzte in den legeren neuen Sommersachen, die sie eben in Geschäften auf der Lappeentie gekauft hatte. Taru zündete sich eine Zigarette an und versuchte vergeblich die quälende Angst zu betäuben. Eerik hatte sie gezwungen, das Telefon auszuschalten, trotz der Warnung des russischen Entführers, dass dies Paulas Tod bedeuten würde.
Eerik Sutela, der auf dem Brillenbügel kaute, warf einen Blick auf Taru, leerte sein Glas Sambuca, noch bevor die Eiswürfel schmelzen konnten, und rief dann einmal mehr die Nummer an, die er von dem orthodoxen Priester erhalten hatte. Es wunderte ihn, dass sich immer noch niemand meldete. Und zu allem Übel kündigte sich die Migräne hinter dem linken Auge an, an den Schläfen spannte die Haut, und das Sonnenlicht war zu grell. Wenigstens hatte er keinen Hunger. Doch seine Stimmung wurde noch düsterer, als sich eine dunkelhaarige Frau, die aussah wie Marissa, zwei Meter entfernt an einen Tisch setzte und sich mit ihrer Freundin unterhielt. Selbst ihre Stimme erinnerte ihn an Marissa. Erst als er daran dachte, dass es für ihn und Taru vielleicht doch noch Hoffnung gab, lebte er etwas auf.
Sutela betrachtete das Linnanhotelli, einen erst kürzlich renovierten Jugendstilbau, und überlegte, ob die Tat 1944in Jäniskoski Mord oder Totschlag gewesen war. Merkwürdigerweise hatte er jetzt das erste Mal in seinem Leben das Gefühl, seinen Vater zu verstehen. Jedem wäre es schwergefallen, all das auszuhalten, was er seinerzeit durchmachen musste: den Verlust der Eltern und der Brüder im Krieg, die mit dem »Schwert des Marschalls« verbundenen Schrecken, die Last, mit dem Sohn allein dazustehen … Kein Wunder, dass er immer angespannt und bedrückt gewesen war.
Dann wanderten seine Gedanken zur Entführung von Tarus Tochter. Anscheinend war der FSB zu allem bereit, um das »Schwert des Marschalls« an sich zu bringen. Vielleicht hatten die Russen auch die Pflegerin seines Vaters umgebracht. Er hatte Angst, wie das alles ausgehen würde.
»Adolf Hitler war hier ganz in der Nähe, auf dem Flugplatz von Immola, zu Gast anlässlich Mannerheims fünfundsiebzigstem Geburtstag im Sommer 1942. Stell dir vor, das war die einzige Reise des Führers an einen Ort außerhalb der Grenzen des Dritten Reiches. Der Marschall hat von seinem Überraschungsgast als Geschenk, soweit ich mich erinnere, einen Geländewagen erhalten«, erzählte er Taru und wartete einen Augenblick vergeblich auf eine Antwort.
»Du hättest übrigens das von Paula etwas früher erzählen können, ich dachte schon, dass ich auch mit dir eine Enttäuschung erleben muss …«
»Dreimal darfst du raten, ob ich das gern früher gesagt hätte«, erwiderte Taru wütend. »Überleg dir mal, was das für ein Gefühl war, ich hatte Angst um Paula und musste gleichzeitig alle anderen belügen: dich, meine Eltern …«
»Ich verstehe dich ja«, sagte Sutela, um sie zu beruhigen.
Taru Otsamo knallte das Bierglas auf den Tisch. »Nun versuche doch mal zu begreifen, in was für einer Situation ich bin. Paula ist Gefangene der Russen, und ich habe deren Vertrauen missbraucht. Was soll ich jetzt tun?«
»Du schiebst die Schuld auf mich ab und sagst, dass ich den Hinweis, der zur Teufelskirche führte, falsch interpretiert habe und du keine Gelegenheit hattest, rechtzeitig anzurufen und das zu berichten. Paula ist nicht in Gefahr, solange ich der Einzige bin, der fähig ist, das ›Schwert des Marschalls‹ zu finden. Mehr Sorgen sollte uns machen, was mit dem ›Schwert des Marschalls‹ geschieht, falls wir gezwungen sind, den Russen zu sagen, wo es sich befindet.«
Taru glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Natürlich sind wir gezwungen, ihnen zu sagen, wo das verdammte Buch ist. Sonst bringen sie meine Tochter um.«
»Wir müssen Verbindung zur russischen Kirche aufnehmen, sie hilft uns. Sie haben Vater in Sicherheit gebracht und gesagt, dass du …« Sutela verschluckte das Ende des Satzes und hörte
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