Artus-Chroniken 2. Der Schattenfürst
betreten. Tudwal ist inzwischen zehn oder elf Jahre alt, ein mageres Bürschchen mit schwarzen Haaren und einem Gesicht, das mich an Cerdic erinnert. Ein Rattengesicht. Er teilt sowohl Sansums Zelle als auch dessen Autorität. Wie glücklich wir uns doch schätzen können, gleich zwei Heilige in unserer kleinen Gemeinschaft zu haben!
»Der Heilige wünscht, daß Ihr diese Pergamente entziffert«, sagte Tudwal und legte sie vor mich auf den Tisch. Igraine beachtete er nicht. Heilige dürfen sich Königinnen gegenüber offenbar unhöflich verhalten.
»Was ist das?« fragte ich ihn.
»Ein Händler will sie uns verkaufen«, sagte Tudwal. »Es seien Psalmen, behauptet er, aber die Augen des Heiligen sind so schwach, daß er sie nicht selbst lesen kann.«
»Aber natürlich«, gab ich zurück. In Wirklichkeit kann Sansum natürlich überhaupt nicht lesen, während Tudwal viel zu faul ist, es zu erlernen, obwohl wir uns alle bemüht haben, es ihm beizubringen. Inzwischen tun wir alle so, als beherrschte er dennoch diese Kunst. Behutsam entrollte ich das Pergament, das alt war, mürbe und dünn. Die benutzte Sprache war Latein, von dem ich selbst nur wenig verstehe, immerhin jedoch genug, um das Wort Christus zu entziffern. »Das sind keine Psalmen«, sagte ich, »aber es ist etwas Christliches. Vermutlich Fragmente aus den Evangelien.«
»Der Händler verlangt vier Goldstücke.«
»Zwei«, sagte ich, obwohl es mir im Grunde gleichgültig war, ob wir sie kauften oder nicht. Ich ließ die Pergamente wieder zusammenschnurren. »Hat der Mann gesagt, woher er sie hat?« erkundigte ich mich.
Tudwal zuckte die Achseln. »Von den Sachsen.«
»Wir sollten sie auf jeden Fall verwahren«, sagte ich pflichtschuldigst, als ich sie ihm zurückreichte. »Sie gehören in die Schatzkammer.« In der Hywelbane, dachte ich, mitsamt den vielen anderen kleinen Schätzen ruht, die ich aus meinem alten Leben mitgebracht habe. All meine Schätze liegen dort –
bis auf Ceinwyns kleine goldene Brosche, die ich vor dem älteren Heiligen versteckt halte. Demütig dankte ich dem jüngeren Heiligen dafür, daß er mich um Rat gefragt hatte, und als er ging, neigte ich den Kopf.
»Eklige kleine Kröte!« sagte Igraine, als Tudwal verschwunden war. Dann spie sie in Richtung Feuer. »Seid Ihr ein Christ, Derfel?«
»Aber gewiß doch, Lady!« protestierte ich. »Was für eine Frage!«
Mit gekrauster Stirn sah sie mich fragend an. »Ich stelle sie«, gab sie zurück, »weil mir scheint, daß Ihr jetzt weniger christlich seid als damals, als Ihr mit der Niederschrift dieser Erzählung begonnen habt.«
Das, dachte ich, war eine kluge Beobachtung. Außerdem traf sie zu, was ich jedoch nicht offen einzugestehen wagte, weil Sansum zu gern einen Vorwand gehabt hätte, um mich der Ketzerei beschuldigen und bei lebendigem Leib verbrennen zu können. Und da würde er mit dem Feuerholz nicht geizen, dachte ich, obwohl er die Rationen, die wir in unseren Kaminen verbrennen durften, überaus gering bemaß. Ich lächelte. »Ihr weckt die Erinnerung an alte Dinge, Lady«, sagte ich, »das ist alles.« Es war nicht alles. Je öfter ich an die alten Zeiten denke, desto stärker kehrt so manches zu mir zurück. Ich berührte einen Eisennagel in meinem hölzernen Schreibtisch, um das Böse von Sansums Haß abzuwenden.
»Das Heidentum habe ich längst abgelegt«, sagte ich.
»Ich wünschte, ich wäre eine Heidin«, sagte Igraine sehnsüchtig und zog sich den Umhang aus Biberpelz fester um die Schultern. Ihre Augen strahlen noch, und ihr Gesicht ist so voller Leben, daß ich fest überzeugt bin, sie ist schwanger.
»Aber sagt das nicht den Heiligen«, setzte sie hastig hinzu.
»Und Mordred«, fragte sie mich weiter, »war er ein Christ?«
»Nein. Aber er wußte, daß die Christen in Dumnonia ihn unterstützen würden, deswegen tat er alles, um sie bei Laune zu halten. Er ließ Sansum eine große Kirche bauen.«
»Wo?«
»Auf dem Caer Cadarn.« Bei der Erinnerung daran mußte ich lächeln. »Sie wurde niemals fertiggestellt, aber sie sollte eine gewaltige Kirche in Form eines Kreuzes werden. Die Kirche werde die Wiederkehr Christi im Jahre 500 begrüßen, behauptete er stolz. Er ließ den größten Teil der Festhalle abreißen und nahm die Holzbalken, um die Außenwand zu bauen. Den Steinkreis benutzte er für die Fundamente der Kirche. Den Krönungsstein ließ er natürlich liegen. Dann brachte er die Hälfte der Ländereien an sich, die zum Palast von
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