Asche und Phönix
ausgeworfen wurde, legte sie es zwischen ihnen auf den Tisch. Noch war es milchig weiß, erst in ein paar Minuten würde er sichtbar werden.
»Muss das sein?«, fragte er.
»Ich will’s nicht behalten, von mir aus kannst du es morgen mitnehmen. Mir geht’s nur um das Fotografieren, nicht um das fertige Bild. Musst du nicht verstehen.«
»Machst du Bilder von den Wohnungen, wenn du zum ersten Mal reinkommst?«
»Ja. Alles muss genauso aussehen, wie es vorher war.«
»Deshalb deine Sorge um das Glas.«
Sie nickte. »Nichts kaputt machen, nichts mitnehmen, keine Spuren hinterlassen. Keinen Apfel wegessen oder die Milch austrinken. Nicht die Zahnpasta ausquetschen oder das Duschgel benutzen. Nichts rumliegen lassen, nicht mal ein Haar.«
»Sind ’ne Menge Regeln.«
»Es gibt noch mehr.«
»Und wer hat sie aufgestellt?«
»Die Community.«
»Wer –«
»Die Unsichtbaren.«
»Aha.«
Sie grinste, dachte aber nicht daran, seine unausgesprochenen Fragen zu beantworten. »Jetzt erzähl mir von deiner Freundin aus der U-Bahn.« Sie sah ihm fest in die Augen und versuchte in seiner Miene zu lesen. »Was war das für ein Flimmern?«
»Chimena ist … Sie ist nicht wie du und ich. Aber ich nehm mal an, das hast du dir schon gedacht.«
»Niemand ist wie du. Und du hast keine Ahnung, wie es hier draußen zugeht, oder?«
»Ich lese Zeitungen. Und schaue fern.« Damit wollte er sie wohl aufziehen, wurde aber gleich wieder ernst. »Mein Vater war tatsächlich im Knast, mehr als einmal. Hast du gewusst, dass er Hippie war? San Francisco, 1968, Haight Ashbury, Woodstock, das ganze Programm. Und dann kam Altamont und er hat alle seine Ideale über den Haufen geworfen und wurde zu … zu Royden Cale, schätze ich, dem Medien-Tycoon.«
»Altamont?«
»Hippie-Kram. Kannst du googeln, wenn du Lust hast.«
Dass er von dem Vorfall in der U-Bahn ablenken wollte, hätte jedes Kind bemerkt. Trotzdem war sie überrascht. Royden Cale, der Herrscher eines weltweiten Imperiums aus Fernsehsendern, Verlagen, Radiostationen und Gott weiß was noch, war mal ein langhaariger, kiffender, Sandalen tragender Freak gewesen? Er hatte in Woodstock im Schlamm gesessen, während die Bands auf der Bühne LSD nahmen und den Weltfrieden besangen? Sicher, Cale war keiner von diesen üblichen Managertypen. Noch vor wenigen Jahren hatte er Berge bestiegen, war um die Welt gesegelt und mit dem Heißluftballon über dem Mittelmeer abgestürzt. Seine Sender wurden es nicht müde, das Bild eines hyperaktiven Extremsportlers ins Gedächtnis der Öffentlichkeit zu brennen. Selbst Ash sah ihn als wettergegerbten Sechzigjährigen vor sich, mit verwegenem Grinsen, zotteligem Haar und grauem Bart. Aber als Blumenkind mit Strickpulli und Palästinensertuch?
»Diese Chimena«, sagte sie, »erzähl mir von ihr.«
Er lächelte. »Du mir zuerst von den Unsichtbaren.«
Sie zögerte lange. »Wir leben in verlassenen Wohnungen. Keine wirklich leeren, sondern solche wie die hier, deren Bewohner für eine Weile verreist sind oder im Krankenhaus. Es gibt geheime Foren im Netz und verschlüsselte Listen, die wir ständig aktualisieren. Diejenigen, die das alles begonnen haben, sind die wahren Unsichtbaren. Manchmal hat man den Eindruck, sie hätten sich wirklich in Luft aufgelöst, aber dann meldet sich plötzlich wieder einer von ihnen. Sie beobachten alle anderen ganz genau. Die Community kontrolliert sich gegenseitig. Wer neu in eine Wohnung kommt, dokumentiert haarklein den Zustand. Jeder verlässt die Wohnung in exakt dem Zustand, in dem er sie vorgefunden hat. Nichts darf an einem anderen Ort stehen, nichts darf zurückbleiben, und wenn die Besitzer nach Hause kommen, darf es nicht mal anders riechen also sonst. Keiner bekommt mit, dass wir da waren.«
»Wie lange lebst du schon so?«
»Hier? Seit ein paar Tagen. Niemand bleibt länger als eine Woche.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Das hab ich nicht gemeint.«
»Ungefähr zwei Jahre. Ist cool. Mir geht’s gut.«
»Ich würde eine Menge dafür geben, unsichtbar zu sein«, sagte er. »Meinetwegen nur für einen Tag.«
»Das hier ist mein Leben ! Keine Soap, in die man mal eben reinschaltet, um zu sehen, was die Leute so treiben.«
»Ich stehe seit meiner Geburt unter Beobachtung. Erst war ich Royden Cales Sohn, jetzt bin ich Phoenix Hawthorne. Diesen ganzen Mist mal loszuwerden, ohne allen Ballast zu leben –«
»Den wirst du davon nicht los. Das hier ist nicht so einfach, wie es vielleicht
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