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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Hofs löste sich ein langgliedriger Umriss. Das Gesicht war das eines teuflischen Kaspers, spitzes Kinn und spitze Nase, eine groteske Karikatur, hartkantig wie ein Holzschnitt. Im ersten Moment hielt Ash es für eine Maske, zumal der Rest des dürren Körpers in einem schwarzen Nadelstreifenanzug steckte. Aber dann bewegten sich die steilen Augenbrauen, rückten näher zueinander und der Mund wurde zu einem zornigen Schrei aufgerissen.
    Ehe sie reagieren konnte, war der Fremde bei ihr, packte sie am Arm und riss sie vor seinen Körper. Sie wehrte sich, bekam einen heftigen Schlag in die Lenden und erschlaffte für einen Augenblick vor Schmerz. Sie konnte die Gestalt nicht sehen, spürte nur ihren harten Griff und den dürren Leib im Rücken, kaum mehr als Knochen und Sehnen. Gestank hüllte sie ein und es dauerte einen Moment, ehe ihr bewusst wurde, dass es Vanille war, durchmischt mit Fäulnis.
    Als sie abermals gegen den Angreifer ankämpfen wollte, drehte der ihr den Arm auf den Rücken, bis der Schmerz ihren ganzen Oberkörper erfüllte. Parker brüllte ihren Namen und stieß sich von der Säule ab, doch da setzte sich Chimena neben ihm aus den Schatten zusammen wie Farbpartikel in einem Kaleidoskop. Ihr Gesicht hatte im Halbdunkel an Vollkommenheit verloren, als hätte jemand eine Schicht heruntergepellt, doch je näher sie dem Licht kam, desto stärker verfestigte sich ihre Schönheit wieder.
    »Lass sie los!«, brüllte Parker die Kreatur an, doch als Reaktion darauf wurde Ashs Arm nur noch weiter nach oben gedrückt. Ihr Schultergelenk gab ein Geräusch von sich wie Möbel in einer Müllpresse. Sie schnappte nach Luft und atmete wieder Vanillegestank ein. Alles drehte sich vor ihren Augen.
    Zugleich kam Chimena näher. »Du kannst sie töten«, sagte sie. »Das Mädchen spielt keine Rolle.« Chimena machte einen weiteren Schritt, war jetzt höchstens noch vier Meter entfernt. Da packte Parker sie am Arm und hielt sie zurück.
    »Nein!«, sagte er.
    Das Wesen, das Chimena Guignol genannt hatte, beugte sich über Ashs Schulter. Als sie benommen den Kopf drehte, sah sie sein Gesicht ganz nah neben sich. Die Nase war viel länger als die eines Menschen und weit nach unten gezogen, das Kinn bog sich aufwärts. Beide schienen sich vor den ledrigen Lippen berühren zu wollen. Ash dachte unwillkürlich an Illustrationen in Kinderbüchern, an Teufelsfratzen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie den Betrachter verängstigen oder belustigen wollten. Sein Gesicht war mit rissiger Haut überzogen.
    Er stieß ein Fauchen aus, als Chimena Parkers Hand abstreifen wollte. Ash spürte, dass Guignol zitterte. Vielleicht hatte Chimena ihn während des Kampfes verletzt.
    Parker wiederholte seinen Befehl, und diesmal rührte Chimena sich nicht mehr. Aus dem Tunnel hinter Ash und Guignol erklangen Schritte, aber die Menschen schienen in einiger Entfernung stehen zu bleiben. Stimmen raunten durcheinander.
    Guignol schob Ash hinter den Säulen entlang, fort vom Eingang der Traboule. Dabei verringerte er den Druck auf ihren Arm etwas, damit sie aus eigener Kraft gehen konnte. Noch immer sprach er kein Wort und kontrollierte sie allein durch Schmerz.
    Parker und Chimena drehten sich mit ihnen und behielten ihren Gegner im Blick. Parker flüsterte leise auf Chimena ein. Sie schüttelte den Kopf. Ash hatte keine Ahnung, was sie planten. Ob sie etwas planten.
    Sie hatten den Hof halb umrundet, als Guignol Ash unvermittelt einen Stoß gab und sie vor sich her zwischen den Säulen hindurch auf den Platz schob. Im ersten Stock ging ein Licht an, bald darauf ein zweites. Silhouetten bewegten sich hinter den Fenstern.
    Noch einmal machte sie den Versuch, sich aus seinem Griff zu befreien, aber es kostete ihn offenbar keine Anstrengung, sie zu bändigen. Als Ash einen Schrei ausstieß, stürmte Chimena über den Hof auf die beiden zu.
    Guignol schleuderte Ash der Angreiferin wie eine Puppe entgegen. Sie und Chimena prallten aufeinander und die Schmerzen wurden so heftig, dass Ash einen Moment lang jedes Gefühl für Oben und Unten verlor. Zugleich stieß Guignol ein schrilles Heulen aus. Chimena war durch den Zusammenstoß für eine Sekunde abgelenkt – nur solange sie brauchte, um Ash von sich fortzustoßen –, doch das genügte Guignol. Mit ausgestreckten Klauen sprang er auf die Frau zu und grub seine Finger zu beiden Seiten in ihren Hals wie in weiches Wachs. Sie verschwanden in ihrem Fleisch, blieben einen Atemzug lang darin

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