Ascheherz
niedergestochen und stirbt auch am Stich in sein Herz nicht. Das Herz heilt in Tagen und er reist weiter. Er liebt Frauen, verlässt sie oder wird verlassen. Er findet Freunde und wird zum guten Menschen für fünfzig Jahre. Und spürt dann, dass ihm dieses Dasein nicht liegt. Und irgendwann, einige Jahrzehnte später, beginnt er wieder einen neuen Hunger zu fühlen. Einen, den er nur zu gut kennt, den Hunger nach wirklicher Macht. Die Sehnsucht nach Intrige, nach Sieg und Niederlage und Gefahr. Diesmal sind es die Kriegsherren, denen er folgt. Er bereist die Schlachtfelder und gewinnt Ruhm als Berater und Vertrauter der Könige und Lords. Nie hat er geahnt, wie viel mehr Macht es birgt, in der zweiten Reihe zu agieren und auch die Mächtigen zu Marionetten zu machen. Erst jetzt durchschaut er dieses Spiel und das Wesen der Menschen ganz. Und begreift langsam, dass er den größten aller Siege anstrebt: den Tod nicht nur zu besiegen, sondern endgültig in die Knie zu zwingen.
Er als Einziger kennt das Geheimnis der Schneefalter aus dem Norden. Und es gelingt ihm, Lord Teremes und andere Lords davon zu überzeugen, dass sie sein Wissen für ihren eigenen Ruhm nutzen können. Der Plan ist perfekt, und als einer von Lord Teremes’ Männern nach einer schweren Verwundung tatsächlich nicht stirbt, sondern sich auf wundersame Weise erholt und kein Gift der Welt ihn mehr töten kann, da hat Indigo gewonnen. Die Lords wissen nicht, dass es Indigo gelang, seiner Botin in der Sekunde seines Todes die Flügel zu nehmen und ihn so zu retten. Immer mehr Herrscher glauben ihm, dass er ein Magier ist, dessen Zaubertrank sie in einen tiefen Schlaf sinken und unsterblich erwachen lässt, doch nur wenn er von Indigo selbst in einer geheimen Zeremonie verabreicht wird. Ein Lord, der das Zaubermittel stehlen lässt, wird nicht unsterblich, sondern stirbt. So festigt sich Indigos Ruf.
Es folgt eine Zeit der Vorbereitung und eine Zeit der Verschwörungen und geheimen Sitzungen. Lords und Ladys sind bereit, ihm zu glauben, denn sie sind alle gierig nach der Ewigkeit. Sie treten seiner Geheimgesellschaft der Ewigen bei und Indigo sieht sich schon als Herr über Leben und Tod. Doch Lady Tod hat begriffen, welches Spiel da jemand um ihre Macht spielt. Und auch sie zieht Verbündete zu Heeren zusammen und verschanzt sich in der Zitadelle. Doch es nützt ihr nichts. Mit dem Gift bringt Indigo seine Verbündeten an die Schwelle des Todes, um die Boten zu den Sterbenden zu locken und sie dann zu fangen. Doch er wählt sorgfältig aus, welchem Herrscher er das ewige Leben schenkt, schließlich will seine Macht gehütet sein. Aber nun ist er grausam geworden und nichts hält ihn davon ab, den Todbringerinnen nicht nur die Flügel, sondern auch das Herz zu nehmen.
Der Sturm auf die Zitadelle gelingt. Und so reicht er schließlich auch Lord Teremes den Giftbecher und der sterbende Herrscher ruft den Namen. Oben, in den Kammern der Winde, wo er sich verschanzt hat, um sein Werk in Heimlichkeit zu vollbringen. Die Botin ist eine Frau mit weißblondem Haar und Augen wie Aquamarine. Mit dem Netz hat er sie gefesselt. Nun holt er das lange, gebogene Sichelmesser …
Das letzte Bild war nur noch ein schwaches Aufflackern hinter Summers geschlossenen Lidern: der Augenblick, in dem sie selbst ihm vor wenigen Minuten entgegengetreten war. Im sichersten Teil der Zitadelle.
Das Erschrecken wie eine Eishand, die sich um sein Herz legt, als er die rotblonde Botin erblickt. Sie hat kürzeres Haar als damals und trägt Uniformhosen und einen schwarzen Pullover, der so nass ist, als käme sie direkt aus dem Meer. Und dennoch hätte er sie überall erkannt.
Der letzte Schlag des dunklen Pulses verhallte auf Summers Lippen. Indigos Herz stand still. Und der warme Atem, der seiner Nase noch entströmte, war nur noch der Erinnerungshauch von Leben, das sich nun für immer verflüchtigte.
Summer fühlte, wie der Mann in ihren Armen zusammensank und leichter und leichter wurde. Und als sie die Augen öffnete, löste er sich so schnell auf, als würden zweihundert Jahre in einer Sekunde auf ihn zurückfallen. Nichts blieb von ihm außer Asche, die im Wind davongetragen wurde. Die grauen Flocken vermengten sich mit ihrem Schwarm von Totenkopffaltern. Zuletzt blieb nur noch Indigos Kleidung, die der Wind aus Summers Händen
zog und über den Rand des Daches wehte. Der Wirbel ergriff die Kleidungsstücke. Indigos Mantel tanzte noch ein paarmal rund um die
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