Aschenputtel: Thriller (German Edition)
habe«, schluchzte sie. » Als Noras Mutter starb, war das so schrecklich, und dabei wusste ich doch, was für ein Leben sie geführt hatte– wie schwer es für sie gewesen war. Es hatte eigentlich gar nicht anders enden können. Aber immerhin hatte ich da wenigstens noch Nora. Und jetzt ist sie auch nicht mehr da.«
Struppi stand aus seinem Korb auf und kam zum Tisch, an dem sie saßen. Fredrika zog vorsichtig ihre Beine zurück. Sie hatte Katzen noch nie leiden mögen.
» Für Noras Mutter ging schon früh im Leben einiges schief«, erzählte Margareta. » Sehr früh. Eigentlich schon in der Oberschule, kurz nachdem ihr Vater gestorben war. Sie hatte schlechten Umgang und kam mit einem Jungen nach dem anderen nach Hause. Ich war außer mir, als sie nicht aufs Gymnasium gehen wollte, sondern sich stattdessen einen Job suchte. In einer Bonbonfabrik! Die Fabrik gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Sei’s drum. Aus diversen Gründen flog sie dort raus, und ich glaube, das war der Moment, als sie anfing, sich zu prostituieren und Drogen zu nehmen.«
In Fredrikas Familie gab es ein altes, erzkonservatives Sprichwort: » In jeder Frau in jedem Alter ist eine Mutter verborgen.« Sie fragte sich, ob das auch auf sie selbst zutraf. Und sie fragte sich, was sie in dem Fall gesagt hätte, wenn die eigene Tochter die Schule schmiss, anfing, in einer Fabrik zu arbeiten, und sich dann prostituierte.
» Wer war Noras Vater?«, fragte Fredrika vorsichtig.
Margareta schnaubte verbittert und wischte sich die Tränen ab.
» Ja, das ist eine schwierige Frage«, sagte sie. » Das kann buchstäblich jeder gewesen sein. Sie hat bei Noras Geburt keinen Vater angegeben. Ich war bei der Geburt dabei. Es dauerte mehrere Tage, bis sie die Kleine überhaupt im Arm halten wollte.«
Die Wohnung verdunkelte sich, als die Sonne draußen hinter einer Wolke verschwand. Fredrika fröstelte.
» Nora war so unerwünscht, wie ein Kind es nur sein konnte«, flüsterte Margareta. » Ihre Mutter hatte sie bereits gehasst, als sie noch in ihrem Bauch gewesen war. Sie hatte sich sogar gewünscht, sie würde eine Fehlgeburt haben. Aber so war es eben nicht gekommen. Nora wurde geboren.«
Fredrika meinte plötzlich den Boden unter ihren Füßen schwanken zu fühlen.
» Unerwünscht?«, echote sie leise.
Sofort sah sie die tote Lilian Sebastiansson vor sich. » Unerwünscht« hatte jemand dem Mädchen auf die Stirn geschrieben. » Unerwünscht.«
Fredrika schluckte.
» Bekam Nora das zu spüren, als sie aufwuchs? Ich meine, dass sie unerwünscht war?«, fragte Fredrika und bemühte sich, nicht allzu aufgeregt zu wirken.
» Ja, natürlich spürte sie das«, sagte Margareta traurig. » In den ersten beiden Jahren wohnte Nora fast die ganze Zeit über bei mir, weil ihre Mutter sie nicht haben wollte, aber dann kam das Jugendamt dahinter, und die wollten lieber, dass Nora in eine Pflegefamilie kam. In eine richtige Familie, wie sie es ausdrückten.«
Margarete klammerte sich an die Tischplatte.
» Das Mädchen hätte es bei mir gut gehabt«, sagte sie mit heiserer Stimme. » Es wäre viel besser für sie gewesen, bei mir zu bleiben, als von Familie zu Familie zu ziehen. Sie konnte natürlich immer zu Besuch hierherkommen, aber was nutzte das schon? So konnte nie etwas aus ihr werden, wo doch so viele andere sie einfach verstört haben.«
» Sind Sie immer hier in Umeå geblieben?«, fragte Fredrika.
» Ja. Nora auch. Kaum zu glauben, wie jemand in derselben Stadt an so vielen verschiedenen Orten wohnen konnte wie Nora, aber genauso war es. Das Einzige, was mich in der Zeit wirklich erleichterte, war, dass Nora aufs Gymnasium ging und einen ordentlichen Abschluss machte. In seltsamen Fächern zwar, irgendetwas mit sozialer Ausrichtung. Aber die Schule hatte ihr zumindest ein wenig Struktur gegeben.«
» Bekam sie hinterher einen Job?«
» Mehr oder weniger«, seufzte Margareta. » Genau wie ihre Mutter geriet sie auf die schiefe Bahn, trank zu viel, feierte zu viel, hatte zu viele Männer. Früher oder später verlor sie jeden Job. Sie sah schon früh sehr verlebt und kaputt aus. Und dann lernte sie diesen Mann kennen.«
Fredrika hielt den Atem an.
» Ich weiß noch genau, in welchem Jahr das war. Mein Bruder heiratete damals zum dritten Mal. Das war vor sieben Jahren.«
Struppi machte einen Satz und sprang auf Margaretas Schoß. Sie legte ihre müden Hände auf den Rücken des Tieres und strich ihm ein paarmal über das Fell.
» Erst
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