Aschenputtel: Thriller (German Edition)
mit einer derart ungenierten Verachtung, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre.
Sara war vollkommen erschöpft. Die Nacht, diese erste Nacht ohne Lilian, war so schrecklich lang gewesen.
» Versuchen Sie, sich auszuruhen«, hatte Alex Recht zu ihr gesagt. » Ich weiß, dass das unmöglich klingt, aber Sie helfen Lilian jetzt wirklich am meisten, indem Sie stark sind. Wenn das Mädchen zurückkommt, braucht es eine ausgeruhte Mutter, die sich um es kümmert. Okay?«
Sara hatte versucht, sich daran zu halten. Sie hatte versucht zu schlafen, sich auf die Rückkehr der Tochter vorzubereiten. Sie klammerte sich an diesen letzten Satz von Alex. » Wenn das Mädchen zurückkommt…« Nicht falls das Mädchen zurückkommt, sondern wenn das Mädchen zurückkommt.
Sobald sie sich hingelegt hatte, war Sara klar geworden, dass es ein großer Fehler gewesen war, Anders sofort wieder nach Hause zu schicken. Aber es hätte sich wie ein Verrat an Lilian angefühlt, wenn sie ihn hätte bleiben lassen. Als würde seine Gegenwart die Chance, ihre Tochter zurückzubekommen, verschlechtern. Um zwei Uhr morgens hatte sie schließlich ihre Eltern angerufen. Ihr Vater hatte kein Wort gesagt, aber sie hatte ihn in den Hörer atmen hören.
» Wir haben immer gewusst, dass wir irgendwann eine von euch verlieren würden«, hatte er schließlich heiser gesagt. » Es konnte einfach nicht gutgehen mit diesem bösen Menschen in eurem Leben.«
Bei diesen Worten hatte Sara den Hörer fallen lassen und war zu einem kleinen Häufchen auf dem Küchenboden zusammengesunken. Sie hatte mit den Fingernägeln über den Holzboden gekratzt und geweint.
» Lilian… Lilian!«
Irgendwo im Hintergrund, aus dem Telefonhörer auf dem Boden, hatte sie die verzweifelte Stimme ihres Vaters gehört.
» Wir kommen sofort, Sara. Mama und ich kommen sofort.«
Sara umklammerte die Kaffeetasse. Es war so schön, dass es trotz des schlechten Wetters endlich wieder frühmorgens schon hell war. Sie hatte zusammengenommen weniger als eine Stunde geschlafen. Das machte sie nicht zu einer schlechten Mutter, versuchte sie sich einzureden. Eine Mutter, die sich überhaupt nicht scherte, musste doch viel schlimmer sein als eine, die sich zu viele Sorgen machte. Sara war erstaunt über ihre eigenen Gedanken. Gab es wirklich eine Grenze dafür, wie verstört man sein konnte, wenn das eigene Kind verschwand? Sie hoffte nicht. Sie flehte, dass es nicht so sein möge.
Das scheppernde Schrillen der Türklingel riss sie aus den Gedanken. Erst wenige Momente zuvor hatte Sara das Radio ausgeschaltet. Sie hatte die Nachricht über das Verschwinden ihrer Tochter sowohl im Fernsehen als auch im Radio gehört. Erst hatten sich die Worte der Nachrichtensprecherin wie eine große, warme Decke angefühlt. Jemand da draußen kümmerte sich. Jemand da draußen wollte ihr helfen, ihr Kind wiederzufinden. Aber nach der dritten oder vierten Nachrichtensendung fühlte sich die warme Decke zusehends wie ein Würgeseil an und wurde zur konstanten Erinnerung an Lilians Abwesenheit. Als wäre es nötig, Sara daran zu erinnern.
Es klingelte wieder.
Ein eiliger Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon fast halb neun war. Eine Stunde zuvor hatte sie mit einem Polizisten gesprochen. Keine Neuigkeiten.
Sara schaute vorsichtig durch den Türspion und hoffte, dass es Fredrika Bergman oder Alex Recht wäre. Doch es war keiner von beiden. Stattdessen stand dort ein Mann, der wie ein Briefträger aussah. Und er hatte ein Paket im Arm.
Verwundert öffnete Sara die Tür.
» Sara Sebastiansson?«, fragte der Mann und hielt das Paket hoch.
Sie nickte. Und sie dachte, dass sie wahrscheinlich ziemlich fertig aussah, so müde und mitgenommen, wie sie war.
» Paket für Sie«, sagte der Mann und hielt ihr den Karton entgegen. » Persönliche Zustellung. Könnten Sie bitte hier unterschreiben?«
» Ah, ja«, sagte Sara zögernd und nahm das Paket entgegen. » Vielen Dank.«
Der Mann nickte und lächelte. » Schönen Tag noch!«
Sara machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, sondern zog die Tür zu und schloss sie ab. Sie schüttelte vorsichtig das Paket. Es wog fast nichts. Es klapperte nichts. Sie suchte nach dem Absender. Der Karton war groß genug, um einen DVD-Player oder etwas Vergleichbares zu enthalten. Sie drehte und wendete es, zunächst ratlos, dann etwas entschlossener.
» Rufen Sie uns an, sobald irgendetwas Unerwartetes oder Unvorhergesehenes geschieht«, hatte Alex Recht
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