Aschenputtel: Thriller (German Edition)
vermutlich eher nicht klein. Wahrscheinlich war er sogar ziemlich groß. Allerdings nur, wenn der Schuhabdruck überhaupt etwas mit Lilians Verschwinden zu tun hatte.
Peder lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und seufzte. Die Nacht war nicht gerade lustig gewesen. Obwohl er sich vorgenommen hatte, früh zu gehen, war er erst nach zehn zu Hause gewesen. Ylva hatte noch am Küchentisch gesessen und Tee getrunken. Sie, die doch den ganzen Tag zu Hause war, saß da und war müde. Peder musste sich regelrecht zusammenreißen, um nicht etwas Grobes oder Gemeines zu sagen. Stattdessen bemühte er sich, das immergleiche Mantra zu wiederholen, das seit zehn, elf Monaten wieder und wieder und wieder in seinem Kopf kreiste. Sie ist krank. Sie ist erschöpft. Sie kann nichts dafür. Wenn wir es ruhig und vorsichtig angehen lassen, wird es ihr bald wieder besser gehen. Es kann nur besser werden.
Bis vor einem knappen Jahr hatte Peder zu den Menschen gehört, die das Leben genossen, das sie lebten, und zwar in jeder Hinsicht. Das hatte er nachgerade als seine Pflicht und Schuldigkeit angesehen, besaß er doch einen gesunden Körper, und seine Lebenssituation war doch wirklich keine schlechte. Er ging jeden Tag zur Arbeit, und das sogar ganz gern. Er genoss das Leben in vollen Zügen, freute sich über eine Karriere, die endlich in Bewegung kam, er freute sich über seine Ylva und die Familie, die er bald haben würde. Er war eine selbstsichere und im Großen und Ganzen unkomplizierte, positive und harmonische Person. Fröhlich und offen. Zumindest sah er selbst das so.
Die Wende war nach der Geburt der beiden Kinder des Paares gekommen, nach den Zwillingen. Das Leben, wie Peder es gekannt hatte, war mit einem Schlag dahin gewesen und schien sich auch nicht wieder einzustellen.
Die beiden Jungen waren direkt nach der Geburt in den Brutkasten gekommen. Ylva war in einer unendlichen Dunkelheit versunken. Postnatale Depression. Peder hatte nun ein neues Leben im Austausch für das alte: ein Leben voller Unlust und Trauer, mit Medikamenten und Langzeitkrankschreibungen und ständigen Telefonaten mit seiner Mutter, die er immer öfter darum bitten musste, auf die Kinder aufzupassen. Und dann dieser bodenlos triste Alltag mit einem vollständigen Verzicht auf Sex. So ein Leben hatte er sich weder erbeten noch verdient.
» Ylva ist depressiv, Peder. Ein physisches Zusammensein mit Ihnen kommt für sie derzeit gar nicht infrage«, hatte der gelinde gesagt ältliche Arzt ihm erklärt. » Sie müssen geduldig sein.«
Und Peder war wirklich geduldig gewesen. Ständig hatte er sich daran gemahnt, dass Ylva krank war, so wie er an Jimmy dachte und dessen Unfähigkeit, wieder gesund zu werden. Peder– und nicht zu vergessen seine Mutter – erledigten zu Hause nunmehr sämtliche Aufgaben. Ylva schlief sich durch September, Oktober und November. Sie weinte den ganzen Dezember, nur an Heiligabend nicht, da riss sie sich zusammen. Im Januar ging es ihr ein klein wenig besser, aber Peder musste immer noch geduldig sein. Mitte Februar hatte sie einen Rückfall und kam den ganzen Monat lang nicht aus ihrem Schneckenhaus. Im März wurde es wieder ein klein wenig besser, aber da war es fast schon zu spät.
Im März nämlich richtete die Dienststelle Södermalm, der Peder damals noch angehörte, ihr großes Frühlingsfest aus, und Peder landete im Bett mit seiner Kollegin Pia Nordh. So unglaublich befreiend. So haarsträubend sündig. So rasend unverzeihlich. Und doch– in Peders Welt– so vollkommen verständlich.
Hinterher erlebte er die schlimmste und schrecklichste Reue, die er je empfunden hatte. Aber dann, während es Ylva immer besser ging und die Tage endlich wieder länger wurden, begann Peder, sich selbst zu verzeihen. Er hatte schließlich nach der höllischen Zeit, die er durchgemacht hatte, ab und zu ein wenig körperlichen Genuss verdient. Es gab mehrere solidarische Kollegen, die von seinem Geheimnis wussten und ihn unterstützten. Es war nur natürlich, dass er sich eine andere suchte. Nicht allzu oft, aber hin und wieder. Es war doch schade um ihn. Er hatte ein besseres Schicksal verdient. Schließlich war er noch nicht einmal fünfunddreißig, verdammt. Also traf er sich noch einmal mit Pia. Der Schaden war ja schon angerichtet.
Aber die Treffen hörten sofort auf, als sie ihn fragte, ob er vorhabe, Ylva zu verlassen. War sie denn völlig durchgeknallt? Ylva für irgendeine Kollegin verlassen? Pia hatte
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