Aschenputtel: Thriller (German Edition)
knapp. Erst als sie auf der Treppe stand und Teodora schon die Tür hinter ihr schließen wollte, fiel ihr ein, was sie zu fragen versäumt hatte.
» Welche Schuhgröße hat Ihr Sohn?«
Ellen Lind hatte ein Geheimnis. Sie war frisch verliebt. Aus irgendeinem Grund machte ihr das ein schlechtes Gewissen. Irgendwo da draußen, dachte sie und sah aus dem Fenster, wird ein Kind von einem kranken Menschen festgehalten, und auf Söder sitzt die Mutter des Kindes und durchlebt Höllenqualen.
Ellen hatte selbst Kinder. Die Tochter war fast vierzehn und der Sohn zwölf. Sie lebte schon seit mehreren Jahren allein mit ihnen, und es gab keine Worte dafür, wie viel sie ihr bedeuteten. Manchmal, wenn sie bei der Arbeit war, spürte sie, wie ihr ganz warm wurde, wenn sie an die beiden dachte. Sie lebten ein gutes, ein erfülltes Leben, und manchmal, aber nur manchmal, schaute sogar der Vater der Kinder vorbei. Insgeheim wartete Ellen auf den Tag, an dem die beiden älter sein und begreifen würden, wie falsch ihr Vater sich in all den Jahren verhalten hatte. In dem Alter, in dem sie jetzt waren, empfanden sie lediglich Freude, wenn er von sich hören ließ. Sie fragten selten nach ihm, und wenn er zwischendurch einmal wieder auftauchte, hatte Ellen bemerkt, fragten sie auch nicht, wo er denn die ganze Zeit über gesteckt und warum er wochen- oder monatelang nicht angerufen hatte.
Von gemeinsamen Bekannten hatte Ellen irgendwann erfahren, dass er eine neue Freundin hatte und dass sie schon sehr bald darauf Nachwuchs erwarteten. Bei dem Gedanken knirschte Ellen mit den Zähnen. Warum schaffte er sich noch mehr Kinder an, wenn er sich doch nicht einmal um die kümmern konnte, die er bereits hatte?
Doch noch viel lieber dachte Ellen an ihre neue Liebe. Erstaunlicherweise war es ihr Interesse für Aktien und Fonds, das sie zusammengebracht hatte. Bei der Arbeit hatte sie nie jemanden kennengelernt, der ihre Interessen teilte, aber privat hatte sie ein paar Freunde, die ihr gern gute Ratschläge und Tipps gaben. Für Ellen war das Aktiengeschäft eine Art Lotterie. Sie setzte niemals große Geldsummen ein, und sie achtete darauf, niemals einen erzielten Gewinn aufs Spiel zu setzen. Der letzte Frühling hatte ihr Leben und das der Kinder mehr bereichert, als sie zu träumen gewagt hatte. Ein dreister, aber glücklicher Einsatz hatte sich so gut ausgezahlt, dass Ellen und die Kinder zum ersten Mal zu Beginn des Sommers auf eine zweiwöchige Pauschalreise gehen konnten. Sie waren in die Türkei geflogen, nach Alanya, und hatten in einem Fünfsternehotel gewohnt. All inclusive natürlich. Essen und Trinken im Überfluss. Tagsüber Ausflüge und baden gehen. Abends Unterhaltung. Ellen hatte gemerkt, wie unglaublich gut ihr diese Auszeit tat. Ihr und den Kindern.
Für gewöhnlich flirtete Ellen nicht, sie war eher schüchtern und nicht sonderlich daran gewohnt, Komplimente zu bekommen– nicht weil sie hässlich wäre, das war sie wirklich nicht, aber sie machte eher einen durchschnittlichen Eindruck. Nicht zu viel Farbe, nicht zu wenig. Keine aufregende Garderobe, aber auch nicht langweilig. Sie hatte Humor und ein schönes Lächeln. Ihre Augen waren schmal, die Haare glatt. Ihr Busen war vielleicht etwas müde davon geworden, zwei Kinder zu stillen, doch so wie Ellen sich kleidete, sah man davon ohnehin nichts.
Und trotzdem hatte er eines Abends einfach an der Hotelbar in Alanya gestanden und sie gefragt, ob er sie zu einem Drink einladen dürfe.
Noch heute errötete sie, wenn sie sich an diesen Augenblick erinnerte. Er hatte so gut ausgesehen, und seine Augen hatten so schön geglitzert. Die obersten Knöpfe seines Hemdes waren aufgeknöpft gewesen, und Ellen hatte sein dunkles Brusthaar sehen können. Er war sonnengebräunt gewesen und groß. Einfach unglaublich attraktiv.
Ellen war nicht leicht einzufangen, aber dieser Mann hatte es ihr sofort angetan. Er hatte ihr geschmeichelt und mit ihr geflirtet, aber nie zu viel. Nicht so viel, dass man ihn nicht ernst nehmen konnte. Sie hatten so viel, worüber sie reden konnten. Ellen hatte sich zu mehreren Gläsern Wein einladen lassen und irgendwann gemerkt, wie die Zeit nur so dahinraste. Kurz nach Mitternacht hatte sie sich entschuldigen müssen. Die Kinder, die sich bis dahin allein beschäftigt hatten, wollten aufs Zimmer zurück, und Ellen wollte sie nicht allein gehen lassen.
» Sehen wir uns morgen?«, fragte der Mann.
Ellen nickte eifrig– sehr eifrig– und lächelte. Sie
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