Aschenputtelfluch
so neugierig?«
»Erbkrankheit«, entgegnete ich.
Er zuckte nur mit den Schultern.
»Wie war sie so?«
»Kira?«
»Klar Kira!«
»Nett. Sie war wirklich nett.«
Das klang nicht nach Nikolaj. War er in sie verliebt gewe sen? Hatte Meg nicht etwas davon gesagt, dass Kira nachts in ihr Kissen geheult hatte aus Liebe?
»Meinst du, sie ist gesprungen, weil sie frei sein wollte?«
»Frei?«
Warum sah er mich nicht an?
»Ja, manche Leute denken doch, dass der Tod Freiheit bedeutet.«
»Glaubst du das auch?« Noch immer schaute er mich nicht an.
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn der einzige Ausweg der Tod zu sein scheint, wie soll man sich da frei fühlen?«
Jetzt blieb er stehen und wandte sich mir zu. »Ihr hättet euch gemocht«, sagte er. »Sie war dir sehr ähnlich.« Er trat einen Schritt auf mich zu, stand ganz dicht bei mir, sah mich lange an.
Wie soll ich dieses Gefühl beschreiben? Weiche Knie? Schmetterlinge im Bauch? Alles Quatsch! Ich löste mich einfach auf, verließ den kalten Flur der Sporthalle, ging in eine andere Dimension, in der es nur uns beide gab. Seine Hand legte sich auf mein Gesicht. Sein Mund näherte sich meinem. Heißer Cappuccino? Das war Vergangenheit, jetzt sehnte ich mich nach mehr. Nach allem. Und genau dieses Gefühl hatte ich bei Jasper nicht gehabt. Vergiss Jasper, dachte ich, vergiss die Küsse mit ihm. Sie waren nicht mehr gewesen als ein Händedruck. Aber dieser kurze Moment, als Nikolajs Lippen meine berührten – da verstand ich plötzlich die ganze Welt und vergaß die Realität – in die ich mit einem Mal brutal zurückgeworfen wurde.
Jemand rannte den Flur entlang. Nikolaj trat einen Schritt zurück.
Sonja.
Ihr Gesicht war schon wieder tränenüberströmt. Viel leicht war auch das eine Erbkrankheit.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Ich kann das nicht! Ich habe total Schiss! Wenn ich nur einen Meter nach unten schaue, dann bekomme ich schon Panik.«
Sie rannte Richtung Umkleidekabine.
Ich hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken, was sie meinte, denn Frau Krassnitzer kam mir in der Tür ent gegen. Vermutlich lief sie so durch ihr ganzes Leben: Sportdress, Trillerpfeife und Tempo, Tempo, Tempo!
»Warum kommst du erst jetzt?«, fuhr sie mich an, wäh rend die anderen Mädchen eine Laufrunde nach der ande ren in der Halle drehten. Wie Hamster in ihrem Laufrad, wie Zirkuspferde in der Arena, wie Angehörige einer Elite einheit der Bundeswehr.
Ich reihte mich ein, war jedoch nach wenigen Metern bereits außer Atem. Dieser Kuss, war er real gewesen? Während ich rannte, fasste ich immer wieder auf meine Lippen, als wollte ich prüfen, ob es wirklich geschehen war. War nicht noch ein Hauch von Cappuccino zu schme cken?
Und dann – von einem Moment zum anderen – ein schriller Ton aus der Trillerpfeife und die Schülerinnen drehten sich auf Kommando zur Seite. Überrascht blieb ich stehen und stieß gegen die Nonne, die zischte: »Pass doch auf!«, und dann stürmte sie hinter den anderen auf eine Reihe von dicken Tauen zu, die von der Decke hin gen.
»Und jetzt: klettern, klettern, klettern!«, brüllte Mrs Feldwebel. »Fertig, los und immer zwei nebeneinander. Versucht zu gewinnen, Verlierer gibt es schon genug auf dieser Welt!«
Verlierer? Ich war kein Verlierer!
Eine nach der anderen zog sich nach oben. Verdammt – die Halle war mindestens acht Meter hoch.
Ich und die Nonne waren das letzte Paar.
Unter dem Kommando »Und eins, zwei, drei« packte ich das Seil mit beiden Händen. Wie von selbst schlangen sich meine Beine um das Tauende.
Mit einem Blick nach unten stellte ich fest: Die Nonne hatte sich noch keinen Meter bewegt. Sie schien sich vor dem Seil zu fürchten. Nun – ich fürchtete mich vor gar nichts. Genauer gesagt fürchtete ich mich vor nichts mehr, seit ich Nikolaj im Flur getroffen hatte.
»Na los!«, schrie der Feldwebel die Nonne an. »Worauf wartest du?« Die anderen lachten.
Im nächsten Moment war ich oben.
Und dann dachte ich an Kira, die oben auf dem Dach stand und hinunterschaute. Ins Bodenlose, in den unendlichen Schlund der Tiefe. Ich spürte ihre Furcht, fühlte, wie meine Hände feucht wurden. Nikolaj hatte gesagt, wir seien uns ähnlich!
Nein! Das konnte nicht sein! Nie würde ich springen! Niemals!
Ich ließ los und seilte mich ab, landete neben Meg, die anerkennend meinte: »Reife Leistung. Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Du solltest trainieren. Dann kannst du richtig gut werden. Ehrlich, du hast das Zeug
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