Aschenputtels letzter Tanz
Essen auf mich wartet.«
So schnell ich kann, renne ich zum Häuschen, aber der kurze Sprint ist sicher nicht dafür verantwortlich, dass mein Herz rasend klopft. Wenn ich mit Torsten in die Zoohandlung gehe, bin ich nie aufgeregt oder nervös. Aber jetzt flattert mir der Puls. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, weshalb. In meinem Inneren wirbeln die Gefühle durcheinander und Angst ist auch dabei.
Werde ich Nina treffen?
Ist das Tobis Absicht? Vielleicht hat er mich deswegen eingeladen. Und was soll ich dann zu ihr sagen? Dass es mir leidtut, dass ich nicht rechtzeitig im Moor war, um den Angreifer zu verscheuchen, bevor er ihr etwas antun konnte? Oder die Wahrheit, dass ich nämlich erleichtert bin, ihm nicht begegnet zu sein? Wer weiß schon, wie er sein Messer an mir angesetzt hätte?
Mir bleibt vermutlich eine halbe Stunde, um mir auf diese Fragen eine Antwort einfallen zu lassen.
D as Haus von Tobis Eltern steht in einer breiten Allee mit Ahornbäumen, in der früher die Fabrikbesitzer gewohnt haben. Die Häuser hier sehen anders aus als im Rest des Ortes, es gibt viel Stuck und große Balkone. Manche Eingänge werden auch von Säulen geziert, überall empfangen einen große Rhododendronbüsche und breite Klingelschilder aus goldschimmerndem Messing. Es ist das bessere Viertel in Mahnburg, das auf einem Hügel über der Stadt liegt und auch alle offiziellen Ansichtskarten schmückt, die die Touristen im Rathaus kaufen können. Bis hierher kommt der Moorgeruch nicht. Dafür riecht es manchmal nach trockenem Holz und Verbranntem, weil in der Nähe das alte Sägewerk steht.
Innen ist das Haus jedoch sehr modern eingerichtet, Hallogen-Strahler an der Decke, und die alten Türenwurden beinahe gänzlich durch Glastüren ersetzt, sodass es relativ hell ist. Mit Großmutters Geisterhaus hat es nicht viel gemeinsam. Auch im Garten wächst alles sehr ordentlich und in Rabatten, wilder Wein oder Efeu sind nirgendwo zu sehen. Das ganze Haus sieht ein bisschen aus wie aus einer Wohnzeitschrift.
Das Besondere daran sind die in Glas gerahmten Bilder von Nina, die überall an den Wänden hängen. Viele davon sehen wie professionelle Fotos aus, wahrscheinlich sind es Aufnahmen von ihren Aufträgen als Model. Auf den meisten Bildern wirkt sie deutlich älter, als sie ist. Auf manchen davon ist sie kaum wiederzuerkennen, so sehr haben sie Make-up und Licht verändert.
Während Tobi mich eine breite, teppichüberzogene Treppe mit goldenem Geländer nach oben führt, habe ich das Gefühl, dass mir die Blicke der Nina-Kopien an der Wand folgen. Es ist unmöglich zu sagen, ob die Augen dieselbe Farbe haben wie Tobis, denn auf jedem Bild wirken sie ein bisschen anders.
Im ersten Stock klopft er an eine Tür, an der ein Poster mit einer Winterlandschaft hängt. Darauf ist eine Gruppe Menschen zu sehen, die an einem Seil ein Haus über einen zugefrorenen See ziehen. Es ist ein lustiges Bild, aber gleichzeitig auch traurig und wunderschön.
Obwohl auf das Klopfen niemand antwortet, drückt Tobi langsam die Klinke hinunter und wirft einen Blick hinein, bevor er die Tür weiter aufstößt. Mit leiser Stimme höre ich ihn sagen: »Ich dachte doch, dass du da bist …«
Aber wieder folgt keine Antwort.
Daraufhin winkt er mich näher, während er Schritt für Schritt in das Zimmer hineingeht, und zögerlich folge ich ihm, bleibe aber dann unsicher im Türrahmen stehen.
Hätte ich Blumen mitbringen sollen?
Der Raum ist groß und tadellos aufgeräumt. Nichts liegt herum, alles ist in breiten Schränken mit Milchglastüren verstaut, durch die große Ikea-Boxen durchscheinen. Auf dem Schreibtisch brummt leise ein Computer vor sich hin, dessen Bildschirmschoner einen roten, auf- und abhüpfenden Apfel zeigt, und im Hintergrund dudelt leise ein Radio.
Ein Schneewittchenapfel , fährt es mir durch den Kopf.
In diesem Zimmer ist kein einziges Foto von Nina zu sehen, die Wände sind in einem kühlen Weiß gestrichen, gegen das wir uns mit unserer Kleidung beinahe schmerzhaft abheben.
Nina steht mit dem Rücken zu uns am Fenster und sieht hinaus über die Stadt. Sie ist groß, überragt mich sicher um einen halben Kopf. Das ist mir im Moor gar nicht aufgefallen. Der dunkelblaue Hello-Kitty-Trainingsanzug kann nicht verbergen, dass sie wahnsinnig schlank ist, fast schon zerbrechlich, und das lange dunkle Haar fällt ihr in weichen Wellen auf den Rücken. Sie hat die Arme um sich geschlungen. Als sie uns hereinkommen hört, dreht sie
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