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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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Angst gewesen, aus einem zu Asche verbrannten und vergessenen Buch ›Ich liebe dich‹ auf Latein vorlesen zu müssen. Ich wollte es ihm in meiner eigenen Sprache sagen. Ihm, einem Jungen, der vielleicht teilweise aus Asche bestand, den ich aber nie vergessen würde. Er musste selbst herausfinden, dass er in mich verliebt war. Diese unangenehme Situation wollte ich ihm nicht ersparen. Er sollte es mir sagen und mir dabei in die Augen blicken. Ich wollte diesen Moment nicht verpassen und dem Cinerarium schenken.
    Ein starker Schmerz durchfuhr mich. Ich hatte ihn verraten.
    »Christine, ich habe etwas Schreckliches getan.«
    Sie lächelte. »Du liebst ihn also. Das hast du dir nun selbst beantwortet. Das war der erste Schritt. Nun solltest du auch mit Ludkar reden.«
    Ich seufzte und versuchte, meine Nervosität zu verdrängen. Sie hatte recht.
    Den Nachmittag über blieb ich mit Christine und Leonard bei Charles. Zusammen wühlten wir in den Kartons, fanden aber nichts Interessantes, nichts, was uns auch nur annähernd auf die Spur meines Vaters hätte führen können. Da waren nur ein paar alte Fotos und Krimskrams, der sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte. Kein Hinweis auf seinen Verbleib.
    Zur Abendessenszeit verabschiedeten wir uns voneinander und verabredeten uns für den nächsten Tag. Irgendwie mussten wir ja herausfinden, wo mein Vater war.
    Ich kam nach Hause, bevor die Dämmerung die Stadt orangerot färbte. Am Eingang drehte ich mich noch einmal um und betrachtete den Himmel. Früher hatte mir das immer sehr gutgetan, nun aber hätte ich seine Färbung fast nicht gemerkt.
    Meine Mutter saß vor dem Fernseher, als ich die Tür öffnete. Sie war ungewöhnlich fröhlich, aber ich fragte nicht nach. Ich begrüßte sie nur und ging in mein Zimmer. Schön für sie, wenn es ihr gutging. Oder vielleicht tat sie auch nur so.
    Ich legte mich aufs Bett und starrte eine Weile auf die Iris, die ich an die Decke gemalt hatte. Ich musste zu Nate und ihm die Wahrheit sagen. Ich liebte ihn und spürte, dass auch er mich liebte. Wir würden uns gegenseitig verzeihen. Und dann würde ich ihn überreden, durchs Feuer zu gehen.
    Ich hatte keinen Hunger und aß nichts zu Abend. Die Iris hatten mich mit ihrem Duft gesättigt. Wie Bienen nährten sich meine Augen mit ihrem Nektar.
    Unbemerkt holte ich die Blumen aus dem Kühlschrank. Zurück in meinem Zimmer steckte ich langsam meine Nase hinein. Ich wollte ihr Geheimnis aufdecken. Ludkar hatte gesagt, dass sich Vampire vom Tod nährten und ich mich vom Leben. Dass ich dank dieser Gabe in die Fast-Welt, ins Cinerarium, reisen konnte.
    Ob das die Wahrheit war? Aber der Schlaf verdrängte meine Gedanken.

Die Stille im Cinerarium war so endlos wie das Grau. Auf der anderen Seite angekommen, regte sich kein Lüftchen.
    Bevor ich eingeschlafen war, hatte ich an Ludkar gedacht. Wenn er sich Hoffnungen gemacht hatte, wäre es das Beste, sie im Keim zu ersticken. Ich stand auf. Als Erstes sah ich die violette Flamme, die aus seinem Kamin kam.
    Ich hatte keine Ahnung, wie Vampire so etwas aufnahmen, aber Ludkar musste in seinen vielen Jahrhunderten Schlimmeres erlebt haben, als die unbedeutende Zurückweisung eines Mädchens. Zumindest hoffte ich das. Und eigentlich war ich doch nur für ein paar Tage in seinem Leben aufgetaucht. Das würde keine Konsequenzen haben. Nein, keine.
    Schritt für Schritt näherte ich mich dem Gebäudekomplex der Raffinerie. In meiner Vorstellung wurden die Rohre zu einem Netz, in dem ich hängen bleiben würde wie eine Fliege. Dann hob ich den Blick und sah Ludkar.
    Er stand reglos da und sah mich an. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Aus der Ferne war sein Gesicht eine lächelnde Maske. Ich erkannte seinen Schal und das rote Futter seines Mantels. Er rührte sich nicht. Vielleicht wartete er darauf, dass ich zu ihm stieß.
    Also bahnte ich mir einen Weg zwischen den ineinander verwobenen Rohren hindurch zu der Treppe, die mich zu ihm führen würde. Ich war aufgeregter als gedacht. Und wenn er mich noch einmal küssen wollte, was dann?
    Als ich den Kamin hinaufkletterte, verlor sich die Raffinerie immer mehr aus dem Blick, und ich konnte die graue Wüste sehen, die sich vor mir erstreckte, so weit das Auge reichte. Ich schluckte. Ich wusste nicht, wie viele Schritte mich noch von Ludkar trennten. Ich hob den Kopf und sah die violette Flamme über mir, aber ich hatte keine Ahnung, in welcher Höhe sie brannte. Diese Wendeltreppe blieb

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