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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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damit herum, während wir ihn aufgeregt beobachteten.
    »Gleich sind wir so weit«, sagte er wieder.
    Dann hörten wir ein Klacken.
    Er hatte das Schloss aufbekommen!
    Wir beugten uns vor, um zu sehen, was unter dem Deckel verborgen war, doch als wir ihn anheben wollten, klemmte er.
    »Verdammter Mist!«, rief Charles und ließ die Eisenstäbe fällen.
    »Hast du es jetzt noch schlimmer gemacht?«, fragte Leo und erntete einen wütenden Blick von Christine.
    Charles ließ sich schlapp auf einen Hocker vor der Werkbank fallen.
    »Tut mir leid, Leute. Wir müssen noch warten.« Dann sah er mich an. »Und? Hast du mit Nate gesprochen?«
    Ich schluckte. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Die Wahrheit konnte ich ihm auf keinen Fall sagen, also ließ ich mir etwas einigermaßen Glaubwürdiges einfallen.
    »Ja«, sagte ich, »ich soll dich von ihm grüßen. Er hat dich auch lieb.«
    Charles lächelte freudig.
    »Und er hat gesagt«, fuhr ich fort, »dass er sich nicht daran erinnert, wie er gestorben ist, nur dass Kolor ihn nicht getötet hat.«
    Das war die größte Lüge, die je aus meinem Mund gekommen war, aber ich dachte, dass es Charles guttun würde.
    »Ich wusste es!«, rief er und stand wieder auf. »Und hat er herausgefunden, wie er zu uns zurückkehren kann?«
    »Wir arbeiten noch daran«, sagte ich verlegen.
    »Wunderbar! Das wird herrlich werden! Ich kann es gar nicht erwarten, ihm zu zeigen, wie gut ich sein Motorrad all die Jahre über in Schuss gehalten habe!«
    Er nahm die Plane und zog sie mit einer ausladenden Bewegung herunter.
    »Wow!«, machte Leo, als er die Maschine sah.
    Sie war wirklich schön. Schwarz mit bunten Reflexen. Wie für Nate gemacht.
    In diesem Augenblick spürte ich Ludkars Lippen auf meinem Mund. Ich spürte, wie sich meine Kehle zusammenzog. Während wir uns unterhalten hatten und meine Aufmerksamkeit der Schatulle gegolten hatte, war alles gut gegangen, ich war abgelenkt gewesen. Aber jetzt …
    »Kann ich nach oben gehen, Charles? Ich würde mir gern die Kartons ansehen.«
    »Klar, du kennst ja den Weg.«
    Meine Freunde blieben bei Charles und probierten neue Techniken aus, um die Schatulle zu öffnen. Ein Glück, denn alles, was ich wollte, war allein sein und in Ruhe nachdenken.
    Durch die Küche ging ich ins Obergeschoss und musste mich am Geländer festhalten. Ich war nicht bloß verstört, ich fühlte mich auch schuldig und feige. Was, zum Teufel, war da passiert?
    Dieses Mal fand ich die Mansardentür ohne Probleme und trat ein. Als Erstes öffnete ich die Fensterläden an der Dachluke und ließ ein wenig Licht und Luft herein. Das hatte der Raum – und vor allem ich – dringend nötig.
    Ich griff mir einen Karton und setzte mich damit auf den Boden. Ich öffnete ihn nicht sofort. Das war im Moment nicht wichtig. Bevor ich andere Dinge verstand, musste ich erst mich selbst verstehen.
    Ludkar hatte mich geküsst. Das war eine Tatsache, die sich nicht mehr ändern ließ. Doch was bedeutete dieser Kuss? Er war richtig, alle Küsse waren richtig, aber er kam von der falschen Person.
    Wie hatte ich mich nach den tiefen Gefühlen, die ich für Nate empfunden hatte, von Ludkar küssen lassen können? Ausgerechnet von ihm, der zugab, ein Mörder zu sein! War es Mitleid gewesen, oder bestand zwischen uns eine Anziehungskraft, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte?
    Ich ertrug es nicht, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Andere zu beherrschen war unmöglich, aber zumindest musste ich mich selbst beherrschen können. Was mir zugestoßen war, was mir noch immer zustieß, war sehr verwirrend: Ich war nicht mehr in der Lage, meine Gefühle in Schach zu halten.
    Es tat weh, an Nate zu denken. Als ich meinen zerrissenen Brief gesehen hatte, hatte ich Angst bekommen. Angst, diesen Schmerz nicht zu ertragen. Also hatte ich mir vorgemacht, wütend zu sein. Ich hatte etwas zugelassen, von dem ich schon jetzt wusste, dass ich es bereuen würde. Ich hatte Ludkar erlaubt, eine Grenze so weit zu übertreten, dass an dem Schmerz gerührt wurde, der sich darunter verbarg. Und der Schmerz war tatsächlich gekommen. Jetzt.
    Ich hatte die Beherrschung verloren, wie Nate im Schloss. Er hatte die Lawine losgetreten und ich hatte mich davon erfassen lassen. Ich biss mir auf die Lippen. Ich war traurig und wehmütig. Ich bereute es, Nate nicht gesagt zu haben, was die wahre Ursache für meine Verwandlung in Asche war. Hätte er es gewusst – hätte er gewusst, dass ich ihn liebte –, dann

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