Ash Mistry und der Zorn der Kobra (German Edition)
verändert wurde? Das ist unmöglich, denn jeder wäre im Zeitstrang dieser veränderten Vergangenheit gefangen. Nur jemand außerhalb der Zeit würde einen Unterschied bemerken und könnte das, was war, mit dem, was ist, vergleichen. Ein solcher Jemand wüsste um eine alternative Geschichte, die zwar geschehen ist, aber gelöscht wurde. Aber die Weisen, selbst wenn sie Macht über die Zeit haben, pfuschen ihr nicht ins Handwerk. Nicht einmal Ravana hat diese Zauberkraft eingesetzt, obwohl er es gekonnt hätte.«
»Warum ist er nicht in der Zeit zurückgereist, um die Dinge zu ändern? Er hätte zum Beispiel dafür sorgen können, dass er Rama besiegt – das wäre leicht gewesen.«
Mahout schüttelte den Kopf. »Man mag ein Ereignis ändern können, aber das würde die Geschichte in völlig neue Bahnen lenken, möglicherweise viel schlimmere als diejenige, die man korrigieren wollte. Was du auch tust, dem Schicksal kannst du nicht entkommen, junger Ash. Es war Ravanas Bestimmung zu verlieren. Bist du selbst nicht der Beweis dafür?«
»Was ist mit Savage? Welche Zauber hat er schon gemeistert?«
Damit kam die nächste Diskussion in Gang. Mahout war davon überzeugt, dass Savage die Viersäfte beherrschte und sie in seinem eigenen Körper in Balance hielt, um seine Lebensspanne zu erweitern. Die Spinnenfrau glaubte, dass er einiges Wissen über die Elementezauber hatte, das er während seiner Zeit im Fernen Osten angehäuft hatte. Doch keiner hatte handfeste Beweise – weder für seine wahren Fähigkeiten noch für seinen Aufenthaltsort.
Ash half bei der Suche nach Savage und war dankbar, eine Ausrede zu haben, um dem Friedhof zu entkommen und die neue Stadt zu erkunden. Kalkutta und Varanasi hätten nicht unterschiedlicher sein können. Varanasi war ein Ort voller Tempel, der tief in den antiken Religionen Indiens verwurzelt war. Die engen Gassen quollen nahezu über von heiligen Männern und Pilgern. Kalkutta indessen war ein Denkmal des britischen Weltreichs und bis 1917 die Hauptstadt von Britisch-Indien gewesen. So flankierten weiß getünchte anglikanische Kirchen und stattliche Regierungsgebäude die breiten Prachtstraßen.
Gemeinsam mit John stattete Ash zuerst dem Victoria Memorial einen Besuch ab. Das Denkmal war ein Symbol für Britanniens zweihundertjährige Herrschaft über Indien. In der Morgendämmerung leuchtete das riesige Kuppeldach der Gedenkhalle in einem sanften Weiß und die umliegenden Gärten füllten sich rasch mit Schwarzhändlern und Touristen, die Tagesausflüge machten oder Picknicks abhielten. Zwischen den Bäumen stiegen Drachen in den Himmel und sprenkelten das Blau mit bunten Diamanten aus Seidenpapier und Bambus.
Ash benutzte die Schulter eines mächtigen Steinlöwen als Ausguck und beobachtete das bunte Treiben mit der verzweifelten Hoffnung, irgendwo Savage zu erspähen. Wenigstens einmal musste der Engländer hier gewesen sein. Orte wie dieser zogen ihn an – Zentren der Macht. Das Gebäude ähnelte stark dem Kapitol in den Vereinigten Staaten von Amerika: ein gigantischer Kuppelbau mit breiten Seitenflügeln, einem Säulengang und jeder Menge Statuen der Großen und Schönen. Als Ash seine Gedanken laut aussprach, spuckte John vor die Füße einer Statue. Sämtliche Statuen stellten irgendwelche Engländer dar, beschwerte sich John. In deren Augen sei es undenkbar, dass Inder ebenfalls »groß und schön« sein konnten.
Den restlichen Tag verbrachten sie damit, von einer ratternden Trambahn auf die nächste zu springen. Die Waggons waren vollgestopft mit Menschen, die innen und außen an Geländern und Haltegriffen hingen, aufhopsten oder absprangen, egal ob die Tram sich bewegte oder stillstand. Zuerst staunte Ash, dass die Straßen nicht voll waren mit geschundenen Leichen, doch schon am Abend machte er es nicht anders. Er schwang sich auf vorbeifahrende Züge und sprang wieder ab, wenn sie abbremsten, um eine Kurve zu nehmen.
Der zweite Tag ihrer Suche verlief ganz ähnlich: Hitze, atemberaubende Sehenswürdigkeiten und noch immer kein Savage. Und so ging es weiter. Ash verbrachte seine Tage damit, die Stadt zu erkunden, und seine Nächte …
Seine Nächte wurden von Albträumen geprägt. Morgen für Morgen erwachte Ash noch erschöpfter als am Tag zuvor. Anders als zu Beginn, als seine Träume noch eine einzige zusammenhängende Erinnerung gewesen waren, kamen sie jetzt in Fetzen, und zwar zu Hunderten. Ohne Sinn und Ordnung wechselte sich ein
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