Ash Mistry und der Zorn der Kobra (German Edition)
hielt inne. Mit angehaltenem Atem starrte sie vor sich.
Savage trat zu ihr. »Endlich.«
Vor ihnen tat sich eine breite Prachtstraße auf. Die Luft waberte und zuckte. Ash starrte angestrengt darauf, doch es war, als würde er versuchen, auf die andere Seite eines Wasserfalls zu schauen. Die Luft war durchsichtig und doch irgendwie zerfasert und durchbrochen.
»Ravanas Palast«, verkündete Savage.
Sobald er diese Worte ausgesprochen hatte, wurde die Anlage vor ihnen glasklar. Die brüchige Lichtstruktur, die wie der Blick durch einen zersprungenen Spiegel war, wurde zu einem Ganzen: nadelspitze Türmchen, die von Dornen geschützt wurden. Mauern aus Glas mit Gängen aus Nägeln und Speeren. Wege voller Muscheln, deren Ränder so scharf wie Rasiermesser waren. Die Steine trugen gequälte Gesichter, für alle Ewigkeit gefangen. Alle indischen Tempel waren mit Apsaras geschmückt, göttliche Jungfrauen von außergewöhnlicher Schönheit. Doch die Apsaras hier waren grausam und ähnelten Harpyien mit Klauen, Mündern voller gezackter Zähne und Augen, in denen der blanke Hass brannte. Sie klammerten sich an Säulen und pirschten lauernd über Balkone.
Eisige Furcht kroch in Ashs Herz und ließ selbst seine Seele erzittern. Die anderen fühlten es ebenso, sogar Jackie schluckte hörbar.
Eine Wolke der Verzweiflung stieg aus dem höchsten Turm und legte sich über die Stadt, schnitt sie von Wärme und Sonnenlicht ab. Dieses Reich existierte jenseits der Welt des Lebens und der Farbe – es war das düstere, tote Königreich einer Rasse, die alles Natürliche verachtete: das Dämonenvolk. Nun, da Ash mitten in dessen Zentrum stand, fühlte er, wie sogar die Welt davor zurückschreckte. Jede Faser seines Körpers sehnte sich fort von hier.
Eine Treppe, voller Sprünge und teilweise eingestürzt, führte zu einem zerstörten, offen stehenden Tor. Die Trümmer waren von ihrem jahrtausendelangen Bad ölig, verkrustet mit Krebsen und zugemüllt vom Treibgut des Ozeans: den Knochen uralter Wesen und nahezu völlig vom Rost aufgefressenen Waffen.
Jackie berührte ehrerbietig den Boden. »Hier sind wir zum letzten Gefecht angetreten.« Sie ließ den Blick über die Stadt schweifen. »Wir hatten Gerüchte gehört, dass Ravana tot sei, doch wir hatten geschworen, seinen Palast in jedem Fall zu verteidigen. Man konnte die Banner von Ramas Armee in der gesamten Stadt sehen. Mayar führte Ravanas königliche Garde an und ich war dort drüben, am äußeren Schlosshof. Wir alle waren auf einen glorreichen Tod gefasst.«
»Doch dazu kam es nie, oder?«, fragte Ash.
Jackie spuckte auf die Stufe. »Nein. Unser neuer König hat sich ergeben. Vibheeshana, Ravanas eigener Bruder! Er war ebenso mächtig wie Ravana, aber ein Feigling. Er fiel vor Rama auf die Knie und übergab ihm das Zepter. Ein Rakshasa, der vor einem Sterblichen kniet! Allein der Gedanke daran macht mich rasend. Anstelle eines ehrenhaften Tods erwartete uns das Exil. Wir wurden zu Vagabunden, Heimatlosen, Verstoßenen. So endete die Herrschaft Ravanas.«
Ash schaute sich um, auf diesem uralten Schlachtfeld, auf dem ein ganzes Volk ausgelöscht worden war. Beinahe, beinahe , taten die Rakshasas ihm leid. Hier auf diesem riesigen Platz waren sie zu einer nahezu ausgerotteten Spezies geworden. Im Laufe eines einzigen Tages waren sie von ihrem goldenen Thron gestoßen und zu Flüchtlingen gemacht worden, verhasst und gejagt von ihren Eroberern.
Jackie stieg auf einen zerbrochenen Felsen und hielt Ausschau. »Der Himmel stand in Flammen und man konnte die Götter schreien hören. Das ganze Universum erbebte, als Ravana starb.«
»Ich weiß. Schließlich habe ich ihn getötet. Beide Male.«
»Du hast ja keine Ahnung, was du getan hast.« Man hörte Jackie an, dass die Verbitterung darüber noch immer wie Säure in ihr brannte, dennoch schwang bereits erschöpfte Resignation in ihrer Stimme. Die Geschichte der Rakshasas hatte in Rajasthan schließlich ein Ende gefunden und Ash war es gewesen, der die letzte Zeile verfasst hatte.
Savage schnippte mit den Fingern und zeigte auf zwei der Hyänen-Rakshasas. »Geht alles auskundschaften!«
Nickend schwärmten sie die Treppe zum gigantischen Palasteingang hinauf. Sie schnupperten an den Steinen und fauchten den dunklen, offenen Mund des Eingangs an, bevor sie gemeinsam hineingingen.
Savage sah seine Loha-Mukhas an. »Auf geht’s!«
Die Statuen rührten sich nicht. Shiva stand vollkommen still und die Affen waren mit
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