Ashby House
Schwester finden, koste es, was es wolle.«
Und mit diesen wenigen, aber von Herzen kommenden Worten hatte Steerpike das Ruder herumgerissen. Sie glaubte ihm. Sie wollte ihm glauben. Wenn er auch nur ein Fan war, besaß er immerhin das ausdrückliche Bedürfnis, das Geheimnis um Lucille zu lüften.
KAPITEL 13
Ein plötzlicher heftiger Regenschauer, charakteristischer für das südenglische Klima als der überraschende Wintereinbruch, hatte die Straßen Südcornwalls in gefährliche Rutschbahnen verwandelt. Wer das Haus nicht unbedingt verlassen musste, blieb daheim. Die anderen wogen ab, ob es lohnender war, einen Beinbruch zu riskieren oder eine Delle im Auto. Die Menschen zogen Strümpfe über ihre Schuhe und bewegten sich durch die Straßen und Gassen wie caligareske Windmühlenwesen. Die Landstraßen waren völlig verlassen. Das Eis hatte die Fenster von Ashby House verkrustet, so dass es im Licht der untergehenden Sonne aussah wie eine kitschig kandierte Hochzeitstorte. Von all dem bekam Laura nichts mit. Gemeinsam mit Steerpike hatte sie sich in die Bibliothek zurückgezogen und alle Schriftstücke, die Lucille mit nach England gebracht hatte, auf dem Boden ausgebreitet. Die beiden hockten auf schmalen Fußschemeln, um sich vor der Bodenkälte zu schützen, und studierten Notizen und Aufzeichnungen, die bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichten. Angesichts des schieren Volumens war Laura beinahe verzweifelt, doch nachdem sie Lucilles Kladden und Alben, ihre Notiz- und Adressbücher zunächst thematisch sortiert und dann in eine chronologische Abfolgegebracht hatten, war eine beruhigende Struktur entstanden, die zudem das Arbeiten erleichterte.
Steerpike hatte sich bereit erklärt, alle Aufzeichnungen zu überprüfen, die in Lucilles Schlafzimmer gelegen hatten. Es stellte sich heraus, dass das Hauptthema Greta Garbo war. Dies schien seine Theorie des konsequenten Rückzugs zu untermauern. Laura nahm sich des Reisetagebuches ihrer Schwester an und machte eine erstaunliche Entdeckung. Anstatt sich über Orte und Menschen auszulassen, hatte Lucille fast ausschließlich thematische und autobiografische Skizzen festgehalten. »Vermutlich, weil sie wusste, dass mich Reisebücher langweilen und dass ich nie freiwillig ein Reisenotizbuch in die Hand nehmen würde. So konnte sie ein Tagebuch führen, ohne Angst zu haben, dass ich es lese.« In Steerpikes Augen erkannte sie die unausgesprochene Frage: Hätten Sie? So, wie Laura jetzt ihre Lider senkte, hätte sie ebenso gut Ja sagen können.
Laura hatte keine Vorstellung davon gehabt, was für eine besessene Schreiberin Lucille war, mit welcher Akribie und mit welch feinem Gespür sie ihren Kosmos betrachtete und analysierte und dass sie lange Gespräche fast vollständig und originalgetreu niedergeschrieben hatte. Je länger sie in dem Buch blätterte, desto klarer zeichnete sich ab: Lucille bereitete ihre Autobiografie vor. Allein die Tatsache, dass sie sich dazu entschlossen hatte, ein Buch über ihr Leben zu schreiben, warf einige bedenkliche Fragen auf. Wie ehrlich würde sie sein? Welche Geheimnisse würde Lucille lüften? Dabei zählten Lauras Ladendiebstähle eher zu den kleineren Geheimnissen, deren Offenbarung nun zu befürchten war. Lappalien im Vergleich zu dem Unfall …
Eines stand für Laura fest: Jemand, der seine Lebensgeschichteniederschreibt, tut nicht den Sprung in die Obskurität. Was auch immer Lucille veranlasst hatte, das Turmzimmer zu betreten, es war keinesfalls der Wunsch, sich in Luft aufzulösen. Hier mussten andere Mächte im Spiel gewesen sein.
»Ich finde hier immer mehr Hinweise auf einen ›Chris‹. Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte?«
Laura legte den Kopf in den Nacken und grübelte. »Der Name sagt mir etwas. Einen Augenblick, Steerpike.«
Sie erhob sich, rieb ihre schmerzenden Glieder und ging zum Schreibtisch, griff ins Regal und zog ein Arbeitsbuch hervor. »Hier steht ›Chris‹ drauf. Vielleicht gehört es dazu.« Sie reichte Steerpike das Buch, und er schlug es auf.
»Das sieht aus wie eine Auflistung von Filmtiteln: ›Die im Dunkeln sieht man doch‹, ›Die Frau im Schatten‹, ›Im Licht der Götter‹, ›Wind unter meinen Flügeln‹. Hat Ihre Schwester geplant, ins Filmgeschäft zu wechseln?«
»Es würde mich nicht überraschen. In der Fotografie hat sie schließlich alles erreicht. Ihr Hang zur Tyrannei würde sie für eine Regie prädestinieren.«
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