Assassini
Venedig.
Wie gern hätte sie sich völlig auf die Arbeit in den Geheimen Archiven konzentriert! Aber schließlich war sie Chefredakteurin der Ordenszeitschrift, und so war die Zeit, die sie hier verbringen konnte, knapp bemessen, höchstens drei Stunden täglich, und selbst das bedeutete, daß Schwester Bernadine einen Großteil von Elizabeth’ Arbeit in der Redaktion mit erledigen mußte. Und das wiederum hatte zur Folge, daß Bernadines Nachforschungen, was die sechs Namen betraf, die in Vals Unterlagen aufgetaucht waren, noch schleppender vorangingen. Aber endlich hatte Bernadine genug Informationen zusammengetragen, um Elizabeth einen ziemlich ausführlichen und zuverlässigen Bericht vorlegen zu können. Elizabeth, die allmählich besser damit zurechtkam, ihre Arbeitszeit auf die Nachforschungen in den Geheimen Archiven einerseits und auf ihren Job andererseits zu verteilen, gelangte zu der Überzeugung, daß sowohl sie als auch Bernadine sich eine kleine Belohnung verdient hatten, und so aßen sie in einer gemütlichen Trattoria in der Nähe ihres Büros gemeinsam zu Mittag.
Obwohl sie noch nichts entdeckt hatte, das irgendeinen Bezug zu Vals Nachforschungen aufwies, war Elizabeth immer mehr von der Arbeit in den Archiven fasziniert. Sie hatte im fondo über die Nuntiatur von Venedig einige erregende Entdeckungen gemacht und war in den Borgia-Unterlagen auf ziemlich brisante Spuren gestoßen: Hinweise auf dieses und jenes, Sex und Gewalt und Verrat und Betrug – all die typischen Merkmale eben jener Epoche. Sie hatte pikante Notizen auf den Rückseiten bestimmter Briefe gelesen, hatte winzige obszöne Zeichnungen an den Rändern gewisser Dokumente gesehen, die von Kopisten stammten, die schon seit drei-, vier- oder fünfhundert Jahren tot waren und die ihre obszönen Zeichnungen gewiß nicht nur aus purer Langeweile hingekritzelt hatten. Sie hatte Unterlagen gesehen, die Entscheidungen widerspiegelten, welche die Kirchengeschichte, ja die Geschichte der abendländischen Zivilisation nachträglich beeinflußt hatten, und sie wußte, daß sie zunehmend der Verführung erlag, Dingen nachzugehen, die nichts mehr mit ihren ursprünglichen Plänen zu tun hatten. Sie wußte, daß sie kostbare Zeit verschwendete, und konnte nichts dagegen unternehmen. Und jetzt, wo sie von einer Art Fieber gepackt worden war, fasziniert von der Vergangenheit, mußte sie sich regelrecht zwingen, sich wieder auf das zwanzigste Jahrhundert und auf das anstehende Mittagessen mit Schwester Bernadine zu konzentrieren.
Bernadine hatte einen etwas abseits stehenden Tisch gefunden und erwartete Elizabeth bereits. Sie bestellten rasch ihr Essen; dann öffnete Bernadine ihren Diplomatenkoffer. »Ich bin noch nicht ganz damit durch«, sagte sie, »aber ich habe einige hochinteressante Biographien zusammengetragen. Sie hatten recht, Elizabeth, die Zahlen hinter den Namen waren Sterbedaten. Falls Sie ein bestimmtes Schema erwartet haben – es gibt eins: Allesamt waren Katholiken, und alle haben das gleiche Schicksal erlitten. Ich komme gleich darauf zu sprechen. Lassen Sie mich chronologisch vorgehen.
Als ersten haben wir Pere Claude Gilbert. Ein französischer Landpfarrer, dreiundsiebzig Jahre alt. Man könnte ihn als einen Menschen bezeichnen, dessen Leistungen weit hinter seinen Fähigkeiten zurückgeblieben sind. Er hat sein ganzes Leben als Priester in einer kleinen Gemeinde unweit der bretonischen Küste verbracht. Hat sich sehr für die Erhaltung der bretonischen Sprache eingesetzt. Allem Anschein nach ein braver, harmloser Mann. In den fünfziger Jahren hat er sogar zwei Bücher geschrieben, so etwas wie die Betrachtungen eines bretonischen Landpfarrers. Sie wissen schon, autobiographisches Material, vermischt mit bretonischer Folklore und so weiter …«
»Dann war er also den ganzen Krieg über in Frankreich«, sagte Elizabeth.
Schwester Bernadine antwortete mit einem Kopfnicken. »Ja, es sieht so aus. Kommt auch mit dem Alter hin. Tja, der Mann wurde in der Bretagne getötet, als er bei einem heftigen Regenschauer alleine auf einer Landstraße spazierenging. Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Man hat weder das Fahrzeug noch den Fahrer ermitteln können. Ein paar Bauern haben den Unfall allerdings beobachtet und ausgesagt, der Fahrer habe nicht einmal den Versuch unternommen zu bremsen …«
Elizabeth nickte und tunkte eine Scheibe Brot in die heiße Suppe, die gerade serviert worden war. »Und der nächste?«
»Sebastien Arroyo.
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