Assassini
aus, als hätte sie seit einer Woche nicht geschlafen. Ihr Gesicht hatte die frische, gesunde Farbe verloren, und sie hatte rote Ringe unter den Augen. Weder sie noch ich hatten nach unserer plötzlichen Begegnung viel geredet, also trug Dunn die Hauptlast des Gesprächs. Es schien ihm nichts weiter auszumachen. Er führte uns zu besagtem Restaurant, wies uns die Plätze an, wählte den Wein aus, probierte ihn und stellte ganz allgemein den Fahrplan für einen Abend auf, der sich noch lange ausdehnen sollte. Er forderte Elizabeth auf, zu berichten, was sie nach Paris vorschlagen hatte, und das tat sie dann auch, wenngleich sie die Geschichte erst nach längerer Anlaufzeit und ungewohnt stockend und sprunghaft erzählte, zudem immer wieder unterbrochen durch die verschiedenen Gänge: Zwiebelsuppe, Champignontoast mit Knoblauch, Pastete mit Knoblauch und grünen Pistazien, Rinderbraten mit Kräuterbutter nach Art des Hauses. Dazu tranken wir zweieinhalb Flaschen Wein. Eine bemerkenswerte Mahlzeit, doch Elizabeth’ Geschichte war noch weitaus bemerkenswerter.
Während ich ihr zuhörte, mußte ich aufpassen, daß das Puzzle, welches ich aus meinen bisher gesammelten Informationen notdürftig zusammengesetzt hatte, nicht wieder in seine Einzelteile zerfiel. Es war wie der Versuch, ein instabiles, mühsam ins Gleichgewicht gebrachtes Gebilde davor zu bewahren, den Schwerpunkt zu verlagern, in sich zusammenzufallen und dabei ein völlig neues Muster zu bilden. Doch Elizabeth’ Informationen veränderten ständig das Aussehen des Bildes, und ich mußte es immer wieder umformen, um die neuen Teile dem bisherigen Muster einfügen zu können. Während mir der Kopf rauchte, wurde Elizabeth wieder mehr und mehr die alte, schaufelte das Essen mit ihrem gewohnten Appetit in sich hinein, gewann allmählich ihre Sicherheit zurück, ihre Energie, ihre geistige Schärfe. Während einer nachdenklichen Pause ertappte ich mich wieder einmal dabei, wie sehr ich mich zu ihr hingezogen fühlte. Ich mußte darauf achten, meine Gefühle in Schach zu halten, durfte mich um Gottes willen nicht auf Gedeih und Verderb einer Nonne ausliefern. Denn hinter dieser schönen Fassade krümmte und wand sich die Kirche.
Jedenfalls begann ihre Geschichte damit, wie sie die Namen von fünf Mordopfern auf einem Aktenumschlag unter Vals Hinterlassenschaft im Ordenshaus in Rom entdeckt hatte. Claude Gilbert. Sebastien Arroyo. Hans Ludwig Müller. Pryce Badell-Fowler. Geoffrey Strachan. Sie alle waren tot. Sie alle hatten Verbindungen nach Paris gehabt, entweder während des Krieges und/oder nach Kriegsende. Sie alle hatten auf die eine oder andere Weise mit der katholischen Kirche zu tun gehabt. Und sie alle waren aus irgendeinem Grunde für Val von Bedeutung gewesen.
Elizabeth war gewissermaßen in Valentines Fußstapfen getreten und hatte, wie Val, die Existenz der Assassini entdeckt. Und dann hatte sie die Spur dieses Geheimbundes durch die Jahrhunderte hinweg verfolgt, bis in die zwanziger Jahre, als die Organisation im Zusammenhang mit Mussolini erwähnt worden war. Sie hatte eine ziemlich schlüssige Verbindung zwischen dem Zweiten Weltkrieg einerseits und den fünf Mordopfern und ihren Mördern andererseits hergestellt. Sicher, man konnte gewisse Ungereimtheiten in ihrer Theorie nicht leugnen, aber es gab nun mal die Morde und die Akten und die Begleitumstände, die förmlich danach schrien, miteinander in Verbindung gebracht zu werden. Elizabeth’ Theorie war fundiert – bis auf eine entscheidende Frage: Wo lagen die Motive für die Morde?
Elizabeth nickte, als ich ihr diese Frage stellte, und erklärte, genau diese Ungereimtheit hätten auch D’Ambrizzi und Sandanato erkannt.
»Und was haben Sie ihnen geantwortet?«
»Liegt das nicht ziemlich klar auf der Hand? Was geschieht momentan in der Kirche, im Vatikan, daß man dafür sogar Menschen töten würde? Was ist in absehbarer Zeit das große Gewinnspiel? Die Wahl von Calixtus’ Nachfolger …«
»Aber was sollten diese fünf Mordopfer mit der Wahl des neuen Papstes zu tun haben?« Dunn lächelte sie freundlich an.
»Ich habe nicht behauptet, die Antwort darauf zu wissen.« Elizabeth war voller Ungeduld. »Ich habe einige Fragen aufgeworfen, die einer Antwort bedürfen – und ohne die richtigen Fragen zu haben, ist man aufgeschmissen, völlig ratlos. Val hat das immer und immer wieder gesagt. Die Fragen sind entscheidend, weil die Antworten darin verborgen liegen, wie sie sich gern
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