Assassini
Nun aber, da ich diese Stadt wiedersah, erinnerte ich mich daran, was ich damals über ihre Geschichte gelesen und gehört hatte. Es war nicht leicht, sich ein so schönes Fleckchen Erde als ›Kloake der Verderbtheit und Bestechlichkeit‹ vorzustellen, wie Petrarca es bezeichnet hatte, aber natürlich spiegelte sich darin der Haß der Römer auf ein französisches Papsttum wider. Dennoch waren die Anschuldigungen gewiß nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die Italiener konnten die regelmäßige Heimsuchung der Stadt durch verschiedene Seuchen in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft gar nicht groß genug herausheben und bezeichneten die Epidemien als die gerechte Strafe eines zornigen Gottes. Und wenn es mal keine Seuche war, die dieser Stadt zu schaffen machte, dann waren es die routiers, Truppen arbeitsloser Söldner, die auf ihren Raubzügen über die weiten Ebenen von Nîmes aus in die Stadt einfielen und sowohl Gold – und davon gab es reichlich – als auch den päpstlichen Segen forderten – und davon gab es sogar noch reichlicher, weil die Söldner sich als Gegenleistung auf die Plünderung Avignons beschränkten und dann abzogen, um irgendeine andere Stadt dem Erdboden gleichzumachen.
Als wir in die Innenstadt gelangten, stellten wir fest, daß dort festliche Stimmung herrschte; Menschenmassen strömten durch die Straßen. Der Festungswall, den die Päpste hatten errichten lassen, umgab noch immer die Stadt: Türme, Tore, Zinnen. Die andere berühmte Touristenattraktion war die St.-Benezet-Brücke, die nie fertiggestellt worden war und bis etwa in die Mitte der Rhone ragte. Dort, wo die Bauarbeiten im Jahre 1680 eingestellt worden waren, endete die Brücke wie mit dem Messer abgeschnitten. Der Strom hatte sich als zu stark erwiesen. Die vier Bögen der Brücke führten ins Nichts, nur zurück in die Geschichte, und sie waren in einem Lied verewigt, das jedes Kind in Frankreich kennt.
An all das erinnerte ich mich jetzt wieder, als ich durch das gute alte Avignon schlenderte. Mir fiel sogar wieder ein, daß John Stuart Mill On Liberty während jener Jahre geschrieben hatte, die er hier in Avignon verlebte, und daß er es irgendwie fertiggebracht hatte, seinem Wunsch entsprechend auf dem Cimetière de Saint-Veran beigesetzt zu werden. Aber diesmal war ich nicht als Tourist in dieser Stadt, wenngleich mir der Gedanke kam, daß ich Mill möglicherweise schon bald auf dem Friedhof Gesellschaft leisten würde, falls Horstmann mir immer noch im Nacken saß.
Ich hatte mich verwandelt, von einem Touristen in … was? Ich zögerte, der Sache einen Namen zu geben.
Einen Jäger mit einem Spielzeugrevolver?
Ein Opfer, das nur noch auf das Ende wartete?
Vielleicht brauchte die Sache gar keinen Namen.
Wir drei schlugen unsere Zelte in einer unbeschreiblichen Absteige auf, da die Stadt von Touristen wimmelte, und Father Dunn tätigte einen Anruf, um Ambrose Calder oder seinen Bevollmächtigten davon in Kenntnis zu setzen, daß wir in Avignon angekommen seien und weiteren Anweisungen folgen würden. Dann kam er wieder hinunter zu uns in die Lobby und teilte uns mit, daß alle Vorbereitungen für ihn getroffen seien – und nur für ihn –, jenen Mann zu treffen, der einst Erich Kessler gewesen war. Dunn wollte aber versuchen, Kessler dazu zu bewegen, daß er auch Elizabeth und mich zum Treffpunkt nachkommen ließ. »Er hat das Sagen«, erklärte Dunn. »Ich kann ihn nur darum bitten.«
»Wo hält er sich auf?« fragte Elizabeth.
»In der Nähe der Stadt. Mehr hat er nicht gesagt. Ich werde mit einem Wagen abgeholt. Ihr könnt ja in der Zwischenzeit einen Stadtbummel machen. Kommt dann hierher zurück und fragt, ob eine Nachricht für euch hinterlassen wurde.« Er sah den bekümmerten Ausdruck auf Elizabeth’ Gesicht. »Mir wird schon nichts passieren. Unser Kessler gehört zu den braven Jungs.« Er blickte mich an und grinste. »Ich hoffe es zumindest.«
»Es sei denn, er ist Archduke«, murmelte Elizabeth, aber Dunn hörte sie schon nicht mehr.
Ich fühlte mich äußerst unbehaglich in Schwester Elizabeth’ Nähe. Durch Dunn und die Umstände plötzlich mit ihr allein, kam ich mir vor wie mitten im Lager des Feindes ertappt. Mir war bewußt, wie schlecht ich mich ihr gegenüber benahm, wie kalt und abweisend ich ihr erscheinen mußte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Es ging um nichts weniger als um mein Überleben. Ich hatte Angst vor ihr, Angst vor der Macht, die sie besaß und mit der sie mir
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