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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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nicht.
    Sie machten sich an die Arbeit. Die dicken Teppiche reichten in verschiedenen Schattierungen von Blau und Rosa von Wand zu Wand. Blankpolierte Messingleuchter hingen an den Wänden, und jedes Fenster war mit einer Schabracke versehen und mit gerafften Fransenvorhängen aus üppiger goldener oder blauer Seide umrahmt. Überall musste Staub gewischt werden. Es gab zwei Seitenflügel, die durch Korridore mit dem Herzen des Hauses verbunden waren, wo sich Küche und Wohnräume befanden. Die Polinnen übernahmen jeweils einen Flügel, und Sally fing im Hauswirtschaftsraum an zu bügeln.
    Hier lag immer ein Stapel der Nadelstreifenhemden aus Baumwoll-Popeline, die David in verschiedenen Pastellfarben trug, in Pink und Peppermint und Primel. Alle waren mit handgestickten Etiketten versehen, auf denen in verschnörkelter Schrift »Ede & Ravenscroft« zu lesen war. Vermisst, dachte Sally, als sie Wasser in das Dampfbügeleisen laufen ließ und das erste Hemd ausbreitete. Vermisst war niemals gut. Nicht, wenn es sich um einen Teenager aus einer guten Familie handelte. Und dann fragte sie sich, ob die Polizei sie würde vernehmen müssen. Ob ein Mann in Uniform zum Cottage kommen würde. Ob er vielleicht bemerken würde, wie Millie und Sally heutzutage lebten, und ob er Zoë darüber berichten würde. Zoë würde kein bisschen überrascht sein, dass ihre dämliche Schwester mit dem hoffnungsvollen Lächeln und den Flausen im Kopf endlich ihre Quittung von der Welt bekommen hatte und auf den Platz gesetzt worden war, der ihr zustand.
    Sie bügelte seit zehn Minuten, als sie David draußen bemerkte. Er kam zielstrebig von der Garage über die kiesbedeckte Zufahrt auf das Haus zu. Er war nicht groß, aber kräftig – die Polinnen nannten ihn den »dicken Mann« –, von stämmiger Statur, mit kurzgeschnittenem grauen Haar und einer ganzjährigen Sonnenbräune. Heute trug er ein zitronengelbes Polohemd von Gersemi, eine Reithose samt Reitstiefel, und er schlug sich beim Gehen mit der Gerte an den Schenkel. Sicher war er oben in Marshfield bei den Stallungen gewesen. Er hatte zum Reiten seinen Schmuck nicht abgenommen; die Sonne blitzte auf der goldenen Kette an seinem Hals und dem Goldstecker am Ohr. Er kam durch die Orangerie herein, machte kurz Station in der Küche und schlug die Kühlschranktür zu. Dann erschien er in der Tür zum Hauswirtschaftsraum.
    »Die einzige Methode, eine gute Dressur-Session zu beenden.« Er hielt ein schlankes Bleikristallglas mit Champagner Rosé in der einen Hand und eine Tüte Erdnüsse in der anderen. »Erdnüsse, um das Salz zu ersetzen, das ich verloren habe, und der Heidsieck, um meine Pulsfrequenz hochzuhalten. Die einzige Methode. Hab ich von den besten Dressur-Boys im Piemonte gelernt.«
    Sein englischer Tonfall wechselte zwischen Australien, East London und Bristol. Sally hatte keine Ahnung, wo er herkam, aber sie war sicher, dass er nicht in einer Riesenvilla wie dieser hier geboren war. Sie unterbrach ihre Bügelei nicht. Anscheinend störte ihn ihre mangelnde Begeisterung nicht. Er ließ sich in einen Drehsessel in der Ecke fallen und vollführte damit eine halbe Drehung, sodass er die Füße auf den Arbeitstisch legen konnte. Er roch nach Aftershave und Pferd, und quer über seine Stirn zog sich immer noch die Kerbe, die von der Reitmütze stammte.
    »Ich bin ein Glückspilz, wissen Sie das?« Er riss die Erdnusstüte mit den Zähnen auf, schüttete sich ein paar in die hohle Hand und warf sie in den Mund. »Ich habe Glück, weil ich einen Riecher für Leute habe, denen ich vertrauen kann. Immer schon. Das hat mich vor vielen Problemen bewahrt. Und Sie, Sally? Sie hab ich schon. Hab Sie hier oben.« Er tippte sich an den Kopf. »Schon in die richtige Schublade gesteckt. Ich weiß, was Sie sind.«
    Sally war seine gelegentlichen Predigten gewohnt. Sie hatte schon gehört, wie er am Telefon mit seiner Mutter über das Neueste redete, das er in den Fernsehnachrichten gesehen hatte: wie es ihn aufregte und wie seine ohnehin düstere Sicht auf die Menschheit mit jedem Tag düsterer werde. Vor allem hatte sie gelernt, dass er von ihr keine Reaktion auf seine Monologe erwartete, sondern nur reden wollte. Aber jetzt wurde es doch ein bisschen persönlicher als sonst. Sie bügelte weiter, hörte allerdings aufmerksamer zu.
    »Sehen Sie, ich weiß etwas, das Sie niemals zugeben werden.« Er sah lächelnd zu ihr auf. Es war ein träges Lächeln, bei dem man alle seine Zähne sah. Sally

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