Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
Vom Netzwerk:
zum Bett und drückte beruhigend ihren Schenkel. »Wir kommen da zusammen durch.«

32
    Als er weg war, handelte sie schnell. Sie zog ihre Hose und den Pullover an. Für die Unterhose war keine Zeit. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Stiefel über die tauben Füße gezogen hatte. Unten in der Küche drehte Kelvin den Wasserhahn auf. Die Wasserleitungen in der Wand klopften und ächzten. Das Kondom steckte sie in die Gesäßtasche. Sie hatte angestrengt nachgedacht. Die Rahmen zwischen den einzelnen Scheiben der Balkontür waren kümmerlich – kaum mehr als dünne Leisten, die die Glasscheiben an ihrem Platz hielten. Sie würde durch das Loch zwischen drei solcher Rahmen untereinander hindurchpassen. Aber bei der ersten Scheibe, die sie zerschlug, würde er etwas hören; also würde sie schnell vorgehen müssen. Bamm bamm bamm. Wie die Karatekünstler, denen sie einmal in einem japanischen Park in der Abenddämmerung zugesehen hatte. Wie Uma Thurman in der gelben Motorradmontur in dem Film vor ein paar Jahren.
    Vom Balkon ging es drei Meter tief hinunter. Wenn sie nicht sauber landete, konnte sie alles vergessen – ihre Beine und Füße waren jetzt schon fast zu nichts zu gebrauchen, und Hoffnung bestand nur, wenn sie nach der Landung augenblicklich hochkäme und geradewegs in den Wald liefe, bevor er ihr folgen könnte. Selbst wenn er begriffen hatte, was für ein Geräusch das war, brauchte er Zeit, um aus der Küche zum vorderen Teil des Hauses zu kommen. Aber die Haustür war abgeschlossen: Er müsste den Schlüssel finden oder durch die Hintertür hinaus und um das Cottage herum laufen, und bis dahin wäre sie längst schon zwischen den Bäumen verschwunden.
    Das Geräusch der Kühlschranktür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde, hallte klar und deutlich aus der Küche herauf. Sie hörte, wie er einen Wasserkocher füllte – wozu? Wollte er sich Tee kochen? So beschissen ruhig war er, dass er sich vergnügt einen Tee machte, als wäre dies für ihn ein normaler Donnerstag. Sie spannte und lockerte jeden Muskel, um sicher zu sein, dass er funktionierte und sie nicht im Stich lassen würde. Dann schloss sie die Hände um die Eisenstäbe des Gitters am Kopfende, um Halt zu finden, hob das Knie bis unter das Kinn und trat zu. Das Glas zerbrach sofort und fiel klirrend nach außen auf den Balkon. Die obere Querstrebe brauchte einen zweiten Tritt. Sie zersplitterte und nahm die Scheibe darüber gleich mit. Noch ein Tritt, und die letzte Scheibe fiel aus dem Rahmen nach außen. Das Loch war fast einen Meter hoch.
    Kelvins Schritte hallten in der Diele, und dann hörte sie ihn auf der Treppe brüllen: » Dreckstück! Dreckstück! «
    Gut. Heraufzukommen würde ihn noch mehr Zeit kosten. Sie zog den Pulloverärmel über die Hand, stieß die letzten Glasscherben hinaus und schob die Füße durch das Loch. Dann die Hüften. Sie hörte, wie Kelvin lauthals fluchend ins Zimmer kam, aber sie war schon draußen und über das Balkongeländer geklettert und ließ sich vorsichtig hinunterhangeln.
    »Tu es«, zischte sie und schaute nach unten. Der Boden schien unendlich weit von ihren Füßen entfernt zu sein. »Na los!«
    Sie sah ihn, wie er mit wutverzerrtem Gesicht durch den zerbrochenen Rahmen der Tür schaute, und sie ließ das Gitter los und fiel. Sie landete auf dem von Unkraut überwachsenen, rissigen Zementboden und verdrehte sich den Fußknöchel. Sie stolperte, und mit einem furchtbaren Knacken schlugen ihre Knie auf den Boden. Sonst blieb sie aber unverletzt. Sie sprang auf und rannte los. Kelvin brüllte irgendwo im Haus und warf in seiner Wut Möbelstücke um. Sie stellte sich vor, wie er eine Schrotflinte lud, während sie ins Dickicht stürmte und ziellos in den Wald rannte.
    Die Bäume hatten noch nicht ihr volles Sommerlaub, und sie konnte weit voraussehen. Da war eine sich grün dahinschlängelnde Rasenfläche – wahrscheinlich gehörte sie zu dem Anwesen, das an Goldrabs Grundstück angrenzte. Sie trieb ihre wackligen Beine voran und atmete durch den geschwollenen Mund, ihre Schritte krachten durch trockenes Holz und raschelndes Laub, und aus den Augenwinkeln sah sie wachsweiche, grüne Teppiche von wildem Knoblauch. Irgendwann war der Wald zu Ende, und sie lief über einen Rasen, der so kurz gemäht und leuchtend grün war, dass es ein Golfplatz hätte sein können. Dahinter sah sie eine Einfahrt mit dem bräunlich gelben Kies der Region und das spektakuläre Gemäuer einer

Weitere Kostenlose Bücher