Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
der Tasche und warf es hinein. Dann verstopfte sie die Dose mit ein paar zerknüllten Servietten. Sie wusch sich noch einmal die Hände, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und humpelte durch die Zufahrt zur Straße. Es war früh am Nachmittag.
33
Sally saß am offenen Küchenfenster, neben sich eine unberührte Tasse Kaffee, und blickte starr hinaus auf die Felder. Der Caterpillar gegenüber von Hanging Hill hatte frisches Laub, und seine Umrisse hoben sich dick vor dem Mittagshimmel ab. Eben noch war er eine Reihe von Skeletten gewesen, die ihre Hände in den Himmel streckten, und am nächsten Tag waren sie zu Bäumen angeschwollen. Einfach so war der Sommer da.
Sie nahm das Telefon und schaute es an. Kein Anruf, keine SMS . Steve war schon am Gate zu seinem nächtlichen Heimflug. Sie faltete die – inzwischen trockenen – Feuchttücher auseinander und breitete sie flach auf dem Tisch aus, und dann fuhr sie mit der Fingerspitze an den Worten entlang.
Mieses Stück .
Es gab eine Möglichkeit, damit fertigzuwerden. Es gab eine. Sie sah sie nur noch nicht.
Es klingelte, und sie fuhr kerzengerade hoch. Sie hatte kein Auto gehört. Da war kein Auto gekommen, ganz sicher nicht. Hastig faltete sie die Papiertücher zusammen, ging zum Fenster und schaute nach draußen. Vor der Haustür, und mit dem Rücken zum Fenster, stand eine Frau, völlig verdreckt in zerrissener Jeans, und das Haar hing ihr wirr über den Rücken.
»Hallo?«
Die Frau drehte sich um und sah sie wortlos an. Ihr Gesicht war zerschlagen, die Nase geschwollen, und im Haar und auf dem Gesicht klebte getrocknetes Blut. Ihre Augen waren leblose schwarze Löcher.
»Zoë?«
Sie schaufelte die Tücher in eine Schublade, schlug sie zu, ging in die Diele und schloss die Haustür auf. Zoë hatte eine Hand an den Türrahmen gelegt und stand mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf da. Als sie Sally ansah, war es, als schaue sie über eine endlose, verwüstete Einöde hinweg. Als wäre sie unversehens in eine Welt geraten, die so furchtbar war, dass niemand, niemand sie jemals angemessen beschreiben könnte.
Sie versuchte zu lächeln. Es blieb bei einem Zucken des Mundwinkels. »Die Leute sagen immer, ich soll einfach fragen, wenn ich Hilfe brauche.«
Sally schwieg. Dann trat sie hinaus auf die Stufe und legte die Arme um ihre Schwester. Zoë blieb steif stehen. Sie zitterte.
»Lass mir ein Bad ein, Sally. Und gib mir was zu trinken. Ja? Das ist alles. Ich brauche ein bisschen Geld, um nach Hause zu kommen, aber das zahle ich dir zurück.«
Sally schüttelte den Kopf. Sie hielt Zoë auf Armlänge von sich ab und betrachtete sie im Sonnenlicht. Ihre Nase war ein blutiger Klumpen. Blutrinnsale waren über das Kinn gelaufen und dort eingetrocknet, und ihre Lippen waren geschwollen. Sie konnte Sally nicht in die Augen schauen.
»Bitte frag nicht. Bitte. Lass mir nur ein Bad ein.«
»Komm.«
Sally führte ihre Schwester ins Haus, stieß die Tür mit dem Fuß zu und half ihr durch den Flur. Zoë humpelte unter Qualen neben ihr her und grunzte leise bei jedem Schritt. Im Badezimmer drehte Sally die beiden Hähne auf, sammelte die Handtücher ein, die Millie am Morgen hinterlassen hatte, und warf sie in den Wäschekorb.
»Hier.« Sie legte Zoë ein sauberes Handtuch um die Schultern. »Du frierst.«
»Ich bleibe nicht länger als nötig. Versprochen.«
»Sei still.« Sie schaltete den beheizten Handtuchhalter ein und holte Waschlappen und weitere saubere Handtücher aus dem Wäscheschrank. Während das Badewasser lief, ging sie in die Küche und stellte eine große Karaffe Mineralwasser und eine Kanne Kaffee auf ein Tablett. Schon als Kind hatte Zoë Unmengen Kaffee getrunken. Schwarz und stark.
Im Badezimmer hatte Zoë sich inzwischen die Kleider vom Leib geschält und stieg in die Wanne. Sally stellte das Tablett ab und sah ihr zu. Es war seltsam genug, den nackten Körper einer anderen Frau in ihrem Badezimmer zu sehen. Die Haut und die Muskeln, die Grübchen, Speckröllchen und schlaffen Fältchen, die das Leben hinterlassen hatte. Aber ihre eigene Schwester? Zoë war größer und schlanker als sie. Und noch etwas – sie war von Verletzungen übersät. Striemen, Schnittwunden, Blutergüsse überall. Manche sahen alt aus, andere neu. Sie verzog schmerzlich das Gesicht, als sie sich ins Wasser gleiten ließ, tauchte einen Waschlappen ein und hielt ihn ans Gesicht.
»Du bist so schön«, sagte Sally. »Schöner, als ich jemals war. Mum und
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