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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Unfall. Er hat mich angegriffen, als ich bei ihm arbeitete. Ich war allein … und es war keine Absicht. Aber getan hab ich’s trotzdem.«
    Zoë starrte sie an, und Sally starrte zurück. Durch das offene Fenster drang das beinahe elektronisch klingende Gezwitscher einer Lerche, die singend in die Höhe stieg. Zoë dachte an Jake the Peg und an Dominic Mooney. Sie dachte an Jason, der auf dem Sofa schlief. An Lieutenant Colonel Watling, an Captain Charlie Zhang und an die vielen Holzwege, auf denen sie gewesen war. Sie senkte den Kopf, drückte die Finger auf die Augenlider und versuchte, ein bisschen Klarheit in ihren Kopf zu bringen. Als sie sprach, klang ihre Stimme gepresst und unnatürlich hoch.
    »Was hast du … du weißt schon, wie hast du ihn …«
    »Ich hab ihn mit einer Nagelpistole umgebracht. Und dann hab ich ihn zerlegt. Ich weiß, es klingt wahnsinnig, aber es ist wahr.« Sie deutete mit dem Kinn zum Fenster. »Da draußen?«
    »Er ist in deinem Garten ?«
    »Nein. Er ist überall. Ringsherum auf die Felder verteilt.«
    »O Gott.« Zoë fühlte sich sehr kalt und so verschlissen, dass sie fast durchsichtig und dünn wie Papier war. »Das ist verrückt. Das ist …« Ihr fehlten die Worte. »Das soll wohl kein Witz sein«, sagte sie schließlich. »Du machst wirklich und wahrhaftig keinen Witz. Du meinst das alles ernst. Ja?«
    »Ja.«
    »Du hast so was noch nie getan?«
    »Nein. Aber als es vorbei war, hat es sich gut angefühlt. Und mir geht es jetzt besser. Mit allem. Sieh mich an. Ich bin verändert.«
    Es stimmte, dachte Zoë. Sie war verändert. Als hätten die Knochen, die ein Leben lang tief unter der weichen, makellosen Haut gelegen hatten, sich plötzlich ungeduldig dagegengedrückt. Die ganze Zeit hatte Zoë Angst gehabt, Goldrab könnte zurückkommen, während er in Wahrheit tot war. Mausetot. Und das hatte sie ihrer eigenen Schwester zu verdanken. Sie zeigte auf den Lippenstift an den Papiertüchern. »Das war auf deinem Autositz?«
    »Auf dem Beifahrersitz.«
    Zoë schob die Tücher mit der Fingerspitze umher. »Der kleine Junge, den wir im Kindergarten kannten?«, sagte sie nach einer Weile. »Kelvin? Den gibt es nicht mehr. Das weißt du, oder? Du weißt, dass er ein erwachsener Mann ist, und was immer ihm passiert sein mag, jetzt ist er gefährlich. Und schlimmer noch, er ist wahnsinnig.«
    »Ich weiß.«
    »Und dir ist klar, dass wir – komme, was da wolle – eine Möglichkeit finden müssen, ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen? Ohne dass ich sage, was mir passiert ist, und ohne dass du sagst, was mit … was mit Goldrab passiert ist.«
    »Ja.«
    »Es gibt ein paar Sachen in seinem Haus, die ihn mit Lorne in Verbindung bringen.«
    »Könnten wir der Polizei keinen Tipp geben? Anonym? Kannst du das nicht?«
    »Du kannst es. Aber es wird nicht einfach sein. Ich schätze, er wird die Sachen inzwischen versteckt haben – oder vernichtet, nachdem ich entkommen bin. Er wird wissen, dass die Polizei nicht weit ist.«
    »Oh.« Sally war entgeistert. »Und was dann?«
    »Ich weiß es nicht.« Zoë rieb sich den Knöchel. Nach dem Sprung vom Balkon tat er weh. »Noch nicht ganz. Aber ein paar Ideen habe ich schon.«

35
    Ein seltsamer, stumpfer Himmel spannte sich über Kelvins Cottage. Als spüre die Welt, was sich dort verbarg, und als wolle sie es zudecken. Ein paar Krähen krächzten in den Linden am Weg, und der Mühlbach plapperte leise. Die beiden Frauen saßen in Sallys Ford Ka am oberen Ende des Weges neben Zoës Wagen, den sie am Morgen auf der Flucht zurückgelassen hatte. Sie konnten an der Hecke mit ihren zarten frischen Blättern vorbei zu Kelvins Cottage hinuntersehen. Es war verlassen.
    »Das habe ich erwartet.« Zoë nahm die Sonnenbrille ab, die Sally ihr geliehen hatte, klappte die Sonnenblende herunter und überprüfte ihr Aussehen im Spiegel. Sie sah aus, als habe sie alles im Griff, doch Sally wusste, dass es Show war. Mit der Manschette ihrer Bluse – die auch Sally gehörte – betupfte sie eine Platzwunde an ihrer Lippe. Ein bisschen Make-up von Sally trug sie auch; Abdeckpuder kaschierte die roten und blauen Blutergüsse, die auf ihrem rechten Wangenknochen erblühten. Schließlich schüttelte sie den Kopf, als stehe sie mit ihrem Aussehen auf verlorenem Posten, und klappte den Spiegel wieder hoch. »Für ihn ist die Kacke jetzt am Dampfen, weil ich überlebt habe. Das sollte nicht passieren. Ich sollte tot sein. Jetzt hat er Angst. Er ist auf der Flucht.

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