Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
nur für ungefähr zwanzig Sekunden. Und dann wissen sie, dass wir hier draußen sind. Bist du bereit?«
Sally drückte mit den Fingern auf ihre Augenlider. Sie war bleicher als ein Gespenst, doch sie nickte. »Ja, wenn du es auch bist.«
Sie sprangen um die Ecke in den Eingang, Zoë hielt die Lampe hoch und leuchtete ins Haus, und die beiden Frauen spähten hinein und machten im Geiste einen Schnappschuss von dem, was vor ihnen war. Die Diele reichte von der Haustür bis ans hintere Ende, mit zwei Türen auf der linken Seite. Sie war völlig leer, und nur an manchen Stellen der Wände hingen noch Reste von Putz. Auf dem Boden lagen die Überreste eines Teppichs, aber sie waren so verfault und feucht, dass sie eher wie Schlamm aussahen, übersät von kleinen Pfützen. So manche Party musste hier stattgefunden haben; leere Flaschen und Bierdosen lagen überall herum, und neben der Hintertür war etwas Großes zu erkennen. Zuerst hielt Zoë es für einen zusammengerollten Teppich oder einen halb mit Laub bedeckten Haufen Kleider, aber dann sah sie, dass es ein Mensch war. Sein Hemd war halb über den Rücken hinaufgerutscht, und man sah lange Schrammen, aus denen das Blut in die Sitzfläche seiner Jeans gelaufen war.
Sie knipste das Licht aus und drückte sich mit dem Rücken flach gegen die Wand. Sally tat das Gleiche, und sie standen schwer atmend und mit geschlossenen Augen da, um zu verdauen, was sie gesehen hatten.
»Das ist er«, flüsterte Sally. »Das ist Nial.«
»Ja.«
Er hatte auf der Seite gelegen und ihnen den Rücken zugewandt, sodass sie sein Gesicht nicht gesehen hatten, aber er war es ohne Zweifel. Die Verletzungen auf dem Rücken konnten nur daher kommen, dass er den Steilhang heruntergefallen war. Vielleicht war er mit letzten Kräften durch die Hintertür ins Haus gekrochen. Zoë schaltete das Licht wieder ein und leuchtete die beiden Türen an, um sicher zu sein, dass Kelvin nicht irgendwo stand. Dann richtete sie den Lichtstrahl auf die Gestalt am Ende des Flurs und sah eine leichte Bewegung.
»Nial?« Sie wölbte die Hand zu einem Trichter vor dem Mund und rief flüsternd durch die Diele. »Nial? Alles okay? Wo ist Millie?«
Nials Hand hob sich. Anscheinend versuchte er, ihnen zuzuwinken. Es konnte ein bestätigendes Winken sein, es konnte auch eine Warnung sein, oder er versuchte, sie zu Millie zu dirigieren. Die Hand blieb ein, zwei Sekunden lang in der Luft und fiel dann wieder herab. Sein Bein zuckte, als er versuchte, sich zu ihnen herumzurollen, aber die Anstrengung war zu groß. Er gab auf und lag einfach langsam atmend da, und sein schmaler Brustkorb hob und senkte sich.
Zapp zapp zapp . Das Geräusch kam durch die zweite Tür. Zapp zapp zapp .
Zwei Schweißtropfen rollten unter Zoës Haaransatz hervor. Das war das Zimmer, in dem der alte Pollock gefunden worden war.
Zapp zapp zapp .
Jetzt wäre sie beinahe durchgedreht. Sie drückte sich um die Ecke, presste hechelnd den Rücken an die Wand und wäre am liebsten weggerannt. Sie hob die Hände vor das Gesicht und versuchte, ruhiger zu atmen. Langsamer. Ein, aus. Ein, aus. Sie hatte sich so lange zusammengenommen. Sie konnte es schaffen. Sie konnte es.
»Zoë?«
Eine kühle Hand auf ihrer Schulter. Sie schaute zur Seite. Sally stand dicht neben ihr, mit ruhigem, glattem Gesicht. Behutsam wand sie ihrer Schwester die Lampe aus den steifen Fingern.
»Es ist okay.« Sie schaute Zoë in die Augen. »Wirklich, es ist okay. Mir geht’s gut. Ich habe keine Angst. Überhaupt keine Angst.«
47
Auf dem Weg durch die Felder, den Felshang hinunter und zum Haus war mit Sally etwas passiert. Das Ding, das da seit Wochen in ihr herangewachsen war, hatte endlich die Oberfläche erreicht. Es war dieses Ding gewesen, das Nein zu Steve hatte sagen können, als er ihr Geld angeboten hatte und als er aus Seattle nach Hause hatte kommen wollen. Es war dieses Ding, das fähig gewesen war, Jake an jenem Abend in Twerton immer weiter zu filmen und David Goldrab in eine Million Stücke zu zerschneiden. Es hatte keine Haut, aber scharfe Zähne und das lange Gesicht eines Drachen, und soeben hatte es sich von der alten Sally losgerissen und sie absolut ruhig und konzentriert zurückgelassen.
Sie würde da hineingehen und Millie herausholen. Ganz einfach.
Sie inspizierte die Handlampe, bewegte den Schalter hin und her und überprüfte ihn sorgfältig. Dann packte sie das Beil mit der anderen Hand und legte es auf die Schulter wie ein Holzfäller.
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