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Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill

Titel: Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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    »Leider.« Debbie schüttelte betrübt den Kopf. »Davon kann ich nur träumen, wissen Sie.«
    Ein oder zwei Männer lachten. Goodsy, der in der letzten Reihe stand, flüsterte seinem Nachbarn etwas ins Ohr. Zoë konnte sich denken, was er sagte.
    »Also, Sie kommen von der Bristol University, steht hier, und Sie sind forensische Psychiaterin.«
    »Psychologin.«
    »Psychologin, Verzeihung. Ein bisschen so was wie in ›Fitz‹?«
    »Genau.«
    »Komisch.« Der Superintendent legte eine Hand vor den Mund und sagte im Flüsterton eines Theaterschauspielers: »Sie sieht nicht aus wie Robbie Coltrane, finde ich.«
    Diesmal lachten fast alle. Aber nicht Zoë. Sie erinnerte sich genau, dass der Superintendent immer wieder erklärt hatte, dass er niemals, niemals »einen verschissenen Seelenklempner« auf weniger als eine Meile an seine Einsatzzentrale herankommen ließe. Das seien lauter Quacksalber und Schwuchteln, die ihren Kopf nicht vom Arsch unterscheiden könnten. Offensichtlich war er noch nie einem »Seelenklempner« begegnet, der aussah wie dieser hier. Wenn man sie so sah, konnte man glauben, dass Honig aus ihrem Mund floss, sobald sie ihn aufmachte. Sie stand auf, ging nach vorn und lehnte sich lässig an den Schreibtisch, als sei sie in ihrem eigenen Seminarraum. Dann legte sie ein Bein über das andere, gerade so weit, dass es kokett aussah, ohne wirklich provokant zu wirken. Ein cleveres Mädel, dachte Zoë. Sie wusste, welche Wirkung sie damit auf einen Raum voller Männer haben würde.
    »Schauen Sie«, sagte Debbie mit strahlendem, offenem Gesichtsausdruck, »ich weiß, es erfordert bei einigen von Ihnen einen großen Vertrauensvorschuss, wenn ich Sie bitte, diesen Fall einmal nicht aufgrund der Beweislage, sondern aus einer psychoanalytischen Perspektive zu betrachten, unter dem Aspekt des psychologischen Profils des Täters. Wahrscheinlich klingt das für viele von Ihnen nach Voodoo.« Sie lächelte. »Aber wenn Sie bereit sind, mir diesen Vertrauensvorschuss zu gewähren, kann ich Ihnen versprechen, dass ich an Ihrer Seite sein werde.«
    Zoë atmete tief und geduldig ein und aus. Nicht zum ersten Mal hörte sie, wie Psychologen ihre Sprüche abließen. Gelaber über Erregungs- und Machtbestätigungstäter, lange Analysen der Gründe, weshalb das Schwein getan hatte, was es getan hatte. Welche Augenfarbe er hatte, was für Unterwäsche er trug, was er am Morgen der Tat zum Frühstück gegessen hatte. Nach ihrer Erfahrung taugten diese Dinge als Ermittlungswerkzeuge nicht besonders viel, und in manchen Fällen waren sie regelrecht destruktiv. Trotzdem schworen manche Kriminalpolizisten darauf, und an dem leuchtenden Funkeln im Auge des Superintendent sah sie, dass er auch frisch bekehrt war. Erstaunlich, was zwei hübsche Beine und ein Lächeln so alles bewirken konnten.
    »Erstens«, sagte Debbie klar und deutlich, »ich nehme an, die Frage, die für Sie alle an erster Stelle steht, die größte Frage, betrifft das, was er geschrieben hat.« Sie richtete den Blick auf das Whiteboard, an dem die vergrößerten Fotos von Lornes Bauch klebten. Daneben hatte jemand in runder Schreibschrift die Worte notiert.
    No one .
    »Da frage ich mich«, sagte Debbie nachdenklich, »ich frage mich, ist das eine Botschaft an uns? Könnte sein. Oder an Lorne? Oder eine Äußerung, die sich an den Mörder selbst richtet? Denken wir einmal gründlich über das Wort › niemand ‹ nach. Bedeutet es, dass Lorne für ihn ein Niemand ist? Ein Nichts? Wertlos? Oder ist es etwas anderes? Soll es heißen, dass er ein Niemand ist? Dass niemand sich für ihn interessiert? Niemand versteht mich . Ich neige zu der Auffassung, dass so etwas dahintersteckt. Das würde bedeuten, dass wir es mit jemandem zu tun haben, dessen Selbstwertgefühl sehr gering ist. Er könnte der Typ sein, der unnatürlich intensive Beziehungen zu Leuten entwickelt – der schnell eifersüchtig oder gekränkt ist. Und jetzt, nachdem er Lorne ermordet hat, könnte er in eine Phase der Selbstvorwürfe geraten. Es könnte zu einem Selbstmordversuch kommen. Vielleicht hat es schon einen gegeben, und deshalb schlage ich vor, dass Sie die Suizidfälle und Einweisungen überprüfen, die sich nach ihrem Tod ereignet haben.« Debbie wandte sich wieder der Tafel zu. Sie genoss die Sache. Wie eine Grundschullehrerin vor einer Klasse voll strahlender Kinder, die sie hingerissen anstarrten. »Nehmen wir uns den nächsten Satz vor. Er hat etwas auf ihren Schenkel

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