Atem - Hayder, M: Atem - Hanging Hill
würde sie die Story nie aus ihm herausholen. »Okay? Alles okay?«
Nach ein paar Augenblicken fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und murmelte: »Ja.«
»Und jetzt ganz ruhig, Ralph, ganz ruhig. Ich weiß, wie furchtbar dir bei all dem zumute ist, und ich weiß auch, wie gern du uns dabei helfen willst, den Kerl zu erwischen, der Lorne das angetan hat. Also erzähl mir alles, was an dem Abend passiert ist.«
Es wurde still im Zimmer. Alle anderen Teenager hatten ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Er senkte den Blick auf seine geballten Fäuste. »Sie hat ihrer Mum gesagt, sie wollte shoppen gehen, aber in Wirklichkeit hat sie sich mit mir getroffen. Oben bei Beckford’s Tower. Wo wir uns immer getroffen haben.«
Beckford’s. Das große viktorianische Monument, das angeblich betrunkenen Bauern früher geholfen hatte, den Heimweg zu finden, mit seinem neoklassizistischen Aussichtsturm und der vergoldeten Laterne. Er stand auf einem Friedhof am oberen Ende der Lansdown Road, und überall in der Stadt konnte man ihn sehen. Eine der Buslinien, die an der Haltestelle am Kanal vorbeifuhren, führte hier entlang. Zoë seufzte. Lorne musste mit dem Bus zurückgekommen sein, weil sie mit Ralph am Beckford’s Tower gewesen war. »Um welche Zeit war das?«
»Gegen halb sechs, glaube ich.«
»Und wie lange wart ihr da?«
»Das weiß ich wirklich nicht genau. Könnte eine Stunde gewesen sein. Aber auch anderthalb.«
»Das weißt du nicht?«
»Ich hab nicht auf die Uhr gesehen. Ganz einfach. Sonst würde ich es Ihnen sagen.«
Also maximal neunzig Minuten. Dazu rund zehn Minuten für die Busfahrt in die Stadt. Es wäre also gerade noch denkbar, dass Lorne woanders gewesen war, nachdem sie sich von Ralph getrennt hatte – und bevor sie zum Kanal gegangen war.
»Und dann?«
»Und dann ist sie gegangen. Und ich bin zu Fuß in die Stadt gelaufen. Hab mich mit, äh« – wieder rieb er sich die Arme – »mit Peter und Nial getroffen.«
»Wir sind ein Bier trinken gegangen«, erklärte Nial hastig. »Die Schule hatte am Tag davor ein Cricket-Match gewonnen, und wir hatten Lust, das ein bisschen zu feiern.«
»Ihr drei?«
»Genau.«
»Seid ihr denn alt genug, um durch die Pubs zu ziehen?«
»Na ja – nein. Eigentlich nicht. Wir benutzen sozusagen falsche Ausweise.«
»Sozusagen?«
»Ja. Warum? Wollen Sie uns jetzt deswegen einen Vortrag halten?«
Zoë sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. Sein Mut beeindruckte sie. »Nein«, sagte sie, »natürlich nicht. Im großen Plan der Dinge ist das nicht gerade das Verbrechen des Jahrhunderts. Um welche Zeit war eure kleine Feier mit falschen Ausweisen zu Ende?«
Nial warf Peter einen Blick zu. Peter kratzte sich am Kopf. »Wann war das? Gegen Mitternacht?«
»Ungefähr.«
»Und wo bist du dann hingegangen, Ralph?«
»Nach Hause. Nach Weston.«
»Und wie bist du da hingekommen?«
»Zu Fuß.«
»Ist unterwegs etwas Ungewöhnliches vorgefallen? Hast du jemanden getroffen, den du kanntest?«
»Nein.«
»Dann lass uns noch ein bisschen zurückgehen. Du hast dich mit Lorne getroffen. Was ist passiert, während ihr zusammen wart?«
Es wurde still. Ralph hielt den Kopf ruhig, aber nicht die Hände. Sie zitterten leise, und seine Schultern bebten. Dann schüttelte er flehentlich den Kopf, als traue er sich nicht zu, etwas zu sagen, ohne in Tränen auszubrechen.
Zoë sah Peter an und zeigte mit dem Daumen zur Tür. »Nur einen Augenblick?«, formte sie mit dem Mund. »Lasst uns allein.«
Die beiden anderen Jungen und die Mädchen sahen einander an. Wie ein einzelner Organismus, der wortlos Entscheidungen treffen kann, gingen sie hintereinander hinaus. Auf dem Korridor blieben sie stehen, lehnten sich mit den Händen in den Taschen an, und jeder legte einen Fuß an die Wand. Wie das Cover eines Ramones-Albums. Magere Kerle und mürrische Blicke kamen anscheinend nie aus der Mode.
Zoë stieß die Tür mit dem Fuß zu, riss eine Handvoll Papiertücher aus der Schachtel auf dem Fenstersims und drehte sich zu Ralph um. Er war an der Wand heruntergerutscht, hockte da wie ein Häuflein Elend und hatte sich die Hände vors Gesicht geschlagen. »Okay, okay.« Sie hockte sich neben ihn, legte ihm eine Hand auf die Schulter und spürte die Wärme seiner Haut durch das dünne Hemd und sein bebendes Ein- und Ausatmen. »Hör zu, es war richtig, dass du zu mir gekommen bist.« Sie gab ihm ein Papiertaschentuch. Er nahm es und presste es auf sein Gesicht. »Darauf kannst
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