Atlan TH 0003 – Der Katzer
aufgegeben. Nächtelang hatte sie wach gelegen, von Albträumen immer wieder aufgeschreckt, sobald die Müdigkeit sie übermannte. Sollte das alles wirklich vergebens gewesen sein?
Zehn Jahre hatte sie ihre ganze Liebe gegeben, weil sie wusste, dass eines Tages alles vorbei sein würde. Nun war die Zeit gekommen, aber sie weigerte sich, das einzusehen.
»Marra ...« Fast flehentlich sah das Mädchen zu ihr auf. »Mutter!«
Sie wischte dem Kind die Tränen ab und das Blut, das aus einigen Platzwunden sickerte.
»Warum? – Warum ist diese Welt so schlecht und verkommen?« Marra bemerkte gar nicht, dass sie ihre Gedanken laut aussprach. Erst als sie eine Hand sanft auf ihrer Schulter spürte, wurde sie sich dessen bewusst.
»Nicht die Welt ist schlecht. Es sind die Menschen, die in ihr leben.«
Überrascht sah Marra auf. Es waren die Worte eines Kindes; dennoch steckte in ihnen mehr Weisheit und Lebenserfahrung, als das Alter vermuten ließ. Sie konnte stolz sein auf ihre Zwillinge.
Sylva, die Ältere von beiden, war schon eine richtige kleine Dame, ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Die großen, hellen Augen, das blonde, gelockte Haar – wenn Marra ihre Tochter ansah, glaubte sie, in einen Spiegel zu blicken. Sylva hatte gelernt, Schläge einzustecken, aber auch auszuteilen, wenn andere ihr zu nahe traten. Sie hing sehr an ihrer jüngeren Schwester.
»Ich liebe Germa«, hatte sie einmal gesagt. »So, wie sie ist.«
Das war vor vielen Wochen gewesen.
Aber wie weit würde diese Liebe gehen? Würde sie sich den Ferraten entgegenstellen, wenn diese Jagd auf das Monster machten? In den nächsten Tagen würden die Brüder und Schwestern der sechsten Wertigkeit fraglos von Germas Existenz erfahren.
Sylvas Schwester war immer kränklich gewesen. Und gerade in letzter Zeit schien sie von einer schnell fortschreitenden Auszehrung betroffen zu sein. Fiebrig glänzend lagen ihre Augen tief in den Höhlen, über ihren Wangenknochen spannte sich eine langsam verhärtende Haut.
Marra befürchtete, dass bald auch Germas Gesicht die rissigen Schuppen aufweisen würde, die sie am übrigen Körper bereits trug. Lange genug hatte sie es vor den anderen aus der Gemeinschaft verbergen können. Niemand hatte bemerkt, dass das Mädchen außer ihren beiden dürren Armen zwei weitere besaß, jeder etwa dreißig Zentimeter lang. In Höhe der Hüftknochen wuchsen sie aus dem Körper.
Das machte Germa zum Monster, zur Ausgestoßenen, die ihr Leben lang auf der Flucht sein würde.
Wie ich jene hasse, die nur stumpfsinnig in den Tag hineinleben, dachte Marra. Denen drei Mahlzeiten bereits die Erfüllung bedeuten. Sie merken nicht, dass sie immer tiefer in einen Sumpf geraten, dem sie nicht mehr entrinnen können.
Sie fühlte es heiß in sich aufwallen. Plötzlich rang sie nach Luft. Ein eiserner Ring schien sich um ihren Brustkorb zu legen.
»Mutter!« Wie aus weiter Ferne drang die Stimme in ihr Bewusstsein.
Zwei Hände, die ihr über die Schläfen strichen, holten die Frau in die Wirklichkeit zurück. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn; ein stechender Schmerz in ihrer Brust, der bis weit in den linken Arm ausstrahlte, machte das Atmen zur Qual.
In letzter Zeit häuften sich Anfälle dieser Art. Allerdings war es nie so schlimm gewesen wie diesmal.
Es ist das Herz, dachte Marra. Ich werde sterben.
Sie fühlte keine Trauer oder gar Angst, nur die Sorge um ihre Kinder. Was sollte aus Germa werden, die vor wenigen Stunden erfahren hatte, was es hieß, anders zu sein als die anderen? Das Mädchen schluchzte leise vor sich hin. Marra fühlte Sylvas Blick auf ihr ruhen und wusste plötzlich, was sie zu tun hatte.
Es gab einen Ausweg.
Sie tastete hinter sich. Ihre Finger glitten über das glatte, kalte Metall des Bodens. Dann fühlte sie den Griff aus Plastik, der sich weich in ihre Hand schmiegte. Die Klinge des Messers war lang genug, um ein schnelles Ende zu garantieren. Erst Germa, dann sie selbst.
Ich hasse euch!, schrien Marras Gedanken. Euch alle, die ihr aus den Zuständen an Bord der SOL Profit schlagt.
Aber sie meinte vor allem einen Mann, der ihr vor nunmehr fast elf Jahren begegnet war. Den Vater ihrer Kinder. In der Hierarchie des Schiffes stand er ganz weit oben. Er besaß die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden. Sie, Marra, hatte damals das Leben gewählt. Doch zu welchem Preis?
Tränen traten ihr in die Augen, während sie das Messer langsam an sich zog. Germa lag nun ganz ruhig.
»Nicht,
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