Attentage
Heuhaufen.“
Leconte kann sich gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal eine so lange Ansprache gehalten hat. Heather beginnt ihn schon nach wenigen Tagen zu verändern, und das tut ihm gut. Er verdrängt den Gedanken an die Schwierigkeiten einer gemeinsamen Zukunft. Jetzt sind sie zumindest einmal die nächsten Monate in der FISA beruflich eng miteinander verbunden.
„Es sind noch zwei Wochen Zeit und ausnahmsweise bekommen wir diesmal die nötige personelle Unterstützung“, sagt Heather. „Wir werden ihn finden!“
Leconte nickt und genießt stillschweigend das „wir“. In London haben sie für 5. April die Hälfte aller Eintrittskarten für das Wachsfigurenkabinett für Kriminalbeamte und Sondereinheiten der FISA aus allen europäischen Ländern reserviert, die sich im Zweistundenrhythmus abwechseln werden. Sie werden als Reisegruppen aus verschiedenen Ländern auftreten. Es muss unverdächtig aussehen, damit ihr Informant im Jemen geschützt bleibt. Es sollte kein Problem sein, dass Geheimpolizisten den Attentäter einkreisen und überwältigen.
Beim Filmball im Wiener Rathaus gibt es drei Eingänge und das Personal gelangt durch Seiteneingänge in das Gebäude. Sanitäter und Security unterliegen normalerweise so gut wie keinen Regeln und Kontrollen, aber auch das wird diesmal anders sein.
„Wenn wir den Attentäter im Vorfeld nicht identifizieren können, muss die Veranstaltung abgesagt werden“, sagt Leconte, obwohl er weiß, dass dies beinahe unmöglich ist, ohne ihren Informanten im Jemen in Gefahr zu bringen.
„Das würde riesiges Aufsehen erregen. Wie könnten wir das plausibel begründen?“, fragt Heather in einem Tonfall, in dem die Ablehnung dieses Vorschlags mitschwingt.
Der Wiener Filmball zieht Prominenz aus der ganzen Welt an. Oscarpreisträger, namhafte Produzenten aus Hollywood, illustrer Hochadel, betuchte Finanziers, europäische Spitzenpolitiker und unzählige Schauspieler lauschen jährlich den Reden, um dann später die Tanzfläche zu bevölkern. Traditionell wird von Spitzenköchen das Menü der Oscarverleihung des Veranstaltungsjahres nachgekocht und im Rathaussaal den Ehrengästen der Stadt Wien serviert, die innerhalb der Veranstaltung von den übrigen ebenfalls geladenen Gästen abgeschirmt sind. Es gibt keine Eintrittskarten zu kaufen.
Leconte zieht statt einer Antwort Luft mit einer nervösen kurzen Bewegung durch die Nase ein. Auf dem Ball herrscht ein Getümmel und Gewühl, das es unmöglich macht, einen Attentäter rechtzeitig zu entdecken. Leconte fühlt sich wie beim letzten Schachspiel mit Purront, als für ihn kein Zug mehr möglich war. Das Spiel wurde für „patt“ erklärt und damit unentschieden beendet. Aber hier gibt es kein Remis, sondern der Gegenspieler ist am Zug, der über Leben und Tod entscheidet.
„Wenn unser Rätselprinz uns doch auch etwas über den Attentäter verraten hätte“, seufzt Leconte. „Aber zumindest wissen wir, dass er vermutlich aus dem Jemen anreist.“
„Und wir können annehmen, dass er männlich und unter 40 ist. Das waren sie bis jetzt immer“, beruhigt Heather. „Das sollte doch reichen, ihn zu identifizieren!“
„Vielleicht verrät er uns ja in seinem Rätsel mehr, als wir darin lesen“, sinniert Leconte und wiederholt leise denWortlaut der Warnung für Wien. „Am 4. April wird den Berühmten in Wien zum Tanz der süße Tod serviert.“
Heather starrt plötzlich auf den leeren Mehlspeisteller. „Es ist nicht der Tod, es ist der süße Tod …“, sagt sie und sieht dann Leconte mit geweiteten Augen an. Der versteht nicht und zieht eine Augenbraue hoch.
„Ich glaube, er sagt uns damit, dass die Bombe beim Servieren des Desserts gezündet wird!“, stößt Heather aufgeregt hervor. Leconte antwortet nicht, sondern ruft auf seinem Handy bereits Purront an und gibt ihm die Anweisung, das Cateringunternehmen des Filmballs in einem Vorort südlich von Wien besonders gründlich unter die Lupe zu nehmen.
DONNERSTAG, 22. MÄRZ, 12 UHR | LONDON, WACHSFIGURENKABINETT
Hani betrachtet Barack Obama, der staatsmännisch lächelnd am Schreibtisch sitzt. Die Besucher stehen Schlange für ein Erinnerungsfoto mit dem amerikanischen Präsidenten. Ein besonders freches Girl umarmt die Wachsfigur und haucht ihr einen Kuss auf die Wange. Ein Angestellter fotografiert mit einer fix montierten Kamera und gibt danach eine Nummer aus, mit der man gegen zehn Euro sein Foto später beim Ausgang an der Kassa bekommt.
Es
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