Attentage
zurück. Die mentale Decke, die ihn beruhigend eingehüllt hat, ist von ihm gewichen. Abdul kommt sich wie ein Idiot vor und ist wütend wegen seiner Ungeschicktheit.
Sein Zimmer befindet sich im 2. Stock eines Altbaus und der Schlüssel ist – wie vereinbart – mit Isolierband an der Rückseite der Fußmatte vor der Eingangstür fixiert. Die Einrichtung ist spartanisch. In einer Ecke ein brummender Kühlschrank, der ziemlich mitgenommen aussieht. Eine altmodische braune Couch, auf der eine karierte Steppdecke und ein Kissen liegen, steht beim einzigen Fenster. Selbst durch die geschlossenen Scheiben dröhnt der Autolärm, den Abdul nach der Totenstille in den Wüstennächten alsbesonders störend empfindet. In der Mitte des Raums steht ein niedriger, abgenutzter Holztisch. Das Waschbecken hat einen riesigen Sprung und ist offensichtlich nicht ganz dicht, da ein gelber Plastikeimer darunter steht. Gleich daneben ist eine Duschecke mit einem vergilbten Plastikvorhang mit Blumenmuster. Dann entdeckt Abdul das Eckregal in Kopfhöhe, auf dem ein Koran mit Goldschnitt liegt. Damit weiß er, in welcher Richtung sich Mekka befindet. Ein kleiner Gebetsteppich lehnt zusammengerollt in derselben Ecke.
Abdul will sich nur kurz auf der Couch niederlegen, schläft aber sofort ein. Als das Telefon klingelt, zuckt er zusammen. Der grüne Apparat steht auf dem Boden. Er erinnert ihn an das Telefon auf der Rezeption eines Hotels im Jemen, dessen Angestellten er öfters Tee gebracht hat. Er hebt den Hörer vorsichtig ab, weiß aber nicht, wie er sich melden soll. So sagt er einfach „Hallo“ und wartet.
Der Anrufer spricht arabisch – offensichtlich nicht seine Muttersprache. Er ist kurz angebunden. „Gehe nach dem Abendgebet ins Java auf dem Naschmarkt, bestelle dort einen Minztee und warte. Den Naschmarkt findest du, wenn du das Haus verlässt und solange rechts gehst, bis du Verkaufsstände für Obst und Gemüse siehst. Dort frag …, nein, besser, such das Lokal, es ist in der Mitte des Markts.“ Bevor Abdul antworten oder noch etwas fragen kann, hat der Anrufer schon aufgelegt.
Er hat noch genug Zeit bis zum Abendgebet. Abdul schließt die Augen und versucht den Straßenlärm zu ignorieren. Die mentale Decke manifestiert sich wieder. Plötzlich erinnert er sich an das, was ihm Ziad über seine neue Identität kurz vor der Abreise noch verraten hat. „Der Träger dieses Namens ist tot, aber das weiß noch niemand. Du bist mitdiesem Pass völlig sicher.“ Abdul fällt ein, dass er vergessen hat, zu fragen, wie jener Marwan Jahra so jung ums Leben kam. Aber eigentlich ist es unwichtig. Der Tod ist nur für die Lebenden von so großer Bedeutung und nur für die Ungläubigen schrecklich. In der dritten Sure steht geschrieben: „Haltet jene, die für die Sache Allahs getötet werden, nicht für tot – sondern für lebendig bei ihrem Herrn.“ Langsam gleitet Abdul wieder in einen tiefen und festen Schlaf, während der Straßenlärm seinen Pegel zur Rushhour bedrohlich erhöht.
DIENSTAG, 20. MÄRZ, 11 UHR | ZAANSTAAS, GEFÄNGNISZELLE
Bruno zögert einen Moment, bevor er dem Wachmann mit einem Kopfnicken bedeutet, die Zellentür aufzuschließen. Er weiß, dass Ahmed die Fotos der Opfer vom Pariser Bahnhof nach seinem letzten Besuch zerrissen und in eine Ecke geworfen hat. Um dann später doch einige größere Teile zu glätten und genauer zu betrachten. Die Beamten berichten auch, dass Ahmed nun oft stundenlang unruhig in seiner kleinen Zelle hin und her läuft.
Einige Tage hat sich Bruno nicht sehen lassen, denn Ahmed soll nicht wissen, wie wichtig seine Informationen für ihre Ermittlungen sind. Noch einmal atmet er durch und tritt ein. Ahmed liegt auf der Pritsche und sieht Bruno nicht an. Der stämmige Wachmann bleibt mit entsichertem Gewehr einige Schritte hinter der offenen Tür auf dem Gang stehen, sodass er das Geschehen zwar im Blickfeld hat, aber Ahmed ihn nicht sieht und sich dadurch provoziert fühlt. „Positionieren Sie sich so diskret, wie es Ihnen möglich ist, ohne mein Leben zu gefährden“, hatte ihm Bruno eingeschärft.
Bruno setzt sich auf den kleinen Hocker neben Ahmeds Pritsche. „Ich werde von dir natürlich nichts über deine Brüder erfahren“, sagt er nach längerem Schweigen, „aber vielleicht möchtest du mit mir über deinen Glauben reden.“ Damit hat Ahmed nicht im Geringsten gerechnet.
Bruno redet entspannt weiter:„Ich habe im Koran gelesen, dass Jesus – den ihr Isa nennt –
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