Auch Santiago hatte einen Hund
Schlafplatz bitte. Jean Gobin, der pensionierte, sehr freundliche Priester - er hilft manchmal aus, wenn der Pfarrer auswärts ist - weist mir gleich die Notschlafstelle zu, einen leer stehenden Raum, in dem Obdachlose, Landstreicher und ab heute auch Pilger übernachten können. (Je länger ein Pilger unterwegs ist, desto schwieriger ist er von den beiden anderen Gruppen zu unterscheiden.) Dicke, großflächige Kartons bilden meine Schlafunterlage auf dem Fliesenboden, aber ich habe ein Dach über dem Kopf, das Klo befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs, kurz: Es passt für mich. Während ich in der Pfarrküche das Eieromelett (drei Eier) verspeise, das mir Jean zubereitet hat, kommt auch der junge Pfarrer zurück, der mich einlädt, in der Früh seine Dusche zu benützen und vor dem Aufbruch mit ihm zu frühstücken. Einladung angenommen!
Alles in allem also doch noch ein guter Tag. Aber das Gefühl der Melancholie und Traurigkeit ist immer noch da. Ich möchte Freunde um mich haben, wenigstens ihre Stimmen hören! So rufe ich am Abend von einer Telefonzelle aus Thierry und Elisabeth in Paris an. Ihr Sohn Thomas, mein Patenkind, ist da, und zufällig auch unser gemeinsamer Freund Henri aus PERPIGNAN. Ich spreche mit allen (ah, das tut gut!), am Schluss mit Henri, dessen Einladung zur Übernachtung im Hotel ich vor zehn Jahren, als ich am Jakobsweg in Südfrankreich unterwegs war, ausgeschlagen habe. Er lacht, als ich ihm erzähle, dass ich sie diesmal jederzeit und gerne annehmen würde, und schlägt vor, ihn anzurufen, wenn ich weiter im Süden bin. Vielleicht hat er da Zeit und könnte mich zum (wie ich ihn kenne, auch gastronomischen) Ausklang zwei bis drei Tage begleiten. Das Telefonat gibt mir ungemein Auftrieb. Jetzt kann ich sagen, es war ein guter Tag!
Zum ersten Mal Vater
Ajiz’ zweiter Sommer war ins Land gezogen, mittlerweile war er zum prächtigen Halbstarken geworden, körperlich praktisch ausgewachsen, er- und beziehungsmäßig waren wir auch schon recht weit gekommen. So kehrte er, wenn er hin und wieder doch noch einer all zu verlockenden Fährte gefolgt war, relativ bald und mit schlechtem Gewissen zu mir zurück, ohne gejagt zu haben - worüber ich heilfroh war. Es gelang mir aber immer besser und öfter, ihn mit einem scharfen Nein! zu bremsen, bevor er durchstartete. Denn war dies einmal geschehen, konzentrierte er all seine Sinne auf das Objekt seiner Begierde. Dann war er nicht unfolgsam, wenn er nicht auf mein Kommando reagierte, sondern nahm mich schlicht und einfach gar nicht mehr wahr. Dies hieß für mich, dass ich bei unseren Wanderungen mindestens genauso konzentriert sein musste wie er, um etwaige Versuchungen noch vor ihm zu registrieren und so in der Lage zu sein, noch rechtzeitig Nein! zu rufen. Ein äußerst nützlicher Nebeneffekt des Prinzips „leinenlos“ war deshalb für mich, dass sich meine Konzentrations- und Wahrnehmungsfähigkeit seither ganz allgemein beträchtlich gesteigert hat, was mir in vielen Situationen, vor allem beim Autofahren, schon oft sehr geholfen hat.
Eines war jedoch bis zum Ende nicht kontrollier-, weil nicht vorhersehbar, nämlich seine Panikreaktion bei Schüssen und Explosionen sowie beim Auftauchen von Paragleitern, Fesselballons und Ähnlichem am Himmel. Unvergesslich wird mir in Erinnerung bleiben, wie einmal ausgerechnet über uns drei Abfangjäger der österreichischen Luftwaffe (ja!) mit einem gewaltigen Knall die Schallmauer durchbrachen. Dadurch geriet Ajiz so in Panik, dass er - wir waren gerade in einem wunderschönen, einsamen Seitental des hinteren Sellrains - in gestrecktem Galopp in Richtung unserer mehr als dreißig Kilometer entfernten Innsbrucker Wohnung lief. Da mich die Erfahrung schon etwas klüger gemacht hatte, sprintete ich sofort zum Auto und holte ihn, nach kurzer und ergebnisloser Suche in St. Sigmund, sechs Kilometer weiter ein, wo er dankbar zu mir ins Auto kletterte.
Ein anderer äußerer Reiz, dessen Wirkung auf Ajiz immer stärker war als die Bindung an mich und mit dem ich bisher noch nie konfrontiert gewesen war, für den ich aber vollstes Verständnis aufbrachte, beruhte auf der unwiderstehlichen Anziehungskraft von läufigen Weibchen auf Rüden. Zum ersten Mal geschah dies während einer unserer täglichen Wanderungen im schon erwähnten Gleirschtal, einem landschaftlichen Kleinod mit empfehlenswertem Gasthaus. Kurz bevor wir auf dem Rückweg am Gasthaus vorbeikamen, lief Ajiz voraus,
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