Auch Santiago hatte einen Hund
Wetter hätte sich endgültig für „miserabel“ entschieden. Strahlender Sonnenschein empfängt mich in BRESSUIRE, WO ich über die Place Saint-Jacques und an den Resten des alten Jakobshospizes aus dem 13. Jahrhundert vorbei dem kleinen Campingplatz am südlichen Stadtrand zustrebe. Er wird von einem jungen britischen Ehepaar - Nebel-, Nässe-, Englandflüchtlinge - geführt, das sich mit seinen zwei Kindern und seinem Weimaranerwelpen (mein Herz schmilzt heim Anblick des entzückenden Hundebabys wie Butter in der Sonne!) in Frankreich eine neue Existenz aufbauen will. Bei dem Bier, das sie mir als erstem Pilger und Fußgänger, der zu ihnen kommt, anbieten, passt sich meine Stimmung sofort dem Sonnenschein an. Noch dazu verfügt der Campingplatz über einen Swimmingpool, dessen Verlockung ich weder widerstehen kann noch will. „Das Wasser ist doch viel zu kalt, heute war noch niemand drin!“, warnen sie mich. Dann bin ich halt der Erste. Nach einigen Längen im tatsächlich ziemlich frischen Wasser fühle ich mich rundherum wohl. Der Tag war gut, danke!
Wochenend einläuten
Lange habe ich darüber nachgedacht, woher diese panische Angst der Hunde vor Schüssen und anderen Explosionen kommt. Für mich ist die Erklärung, wonach traumatische Erlebnisse mit Schüssen oder eine angeborene Angst vor Jägern die Ursache dafür sind, vollkommen abwegig. Ich vermute viel eher, dass es wie im Falle der Angst vor fliegenden, fast geräuschlosen Objekten eine tief verwurzelte Angst ist, die weit in die Zeit zurückreicht, als der Wolf, der Vorfahre des Hundes, nur durch die Jagd überleben konnte und in einem viel größeren Ausmaß als der Hund heute von für ihn günstigen Umweltbedingungen abhing. So bedeuteten starke Gewitter für einen Wolfswelpen - durch rasch anschwellende Bäche, umstürzende Bäume, Erdrutsche oder Steinschläge -Lebensgefahr, vor der er sich durch Flucht in seine Höhle rettete. Und was tut ein Hund, wenn er bei einem lauten Knall - ähnlich dem Donnern bei einem Gewitter - in Panik gerät? Er sucht Zuflucht in einem höhlenartigen Bau, unter einer Bank, einem Sofa oder einer Stiege etwa; jedenfalls war dies immer Ajiz’ Reaktion. Weil eben jeder Knall diese uralte Erinnerung an Unwetter und deren gefährliche Folgen im Hund wachruft. Nicht alle zeigen diese Reaktion, auch kann sie manchmal durch Gewöhnung aberzogen werden; aber bei Ajiz versuchte ich es erst gar nicht: Erstens bin ich kein Jäger, und zweitens erscheint mir die Gewöhnungsprozedur — abgesehen von ihrer Dauer zudem ohne Erfolgsgarantie - doch recht grausam.
Ein weiteres rätselhaftes Verhalten von Ajiz - jedoch nicht von Angst und Panik bestimmt, und oft sogar Heiterkeit auslösend -bestätigt indirekt meine These von den uralten Instinkten, die noch aus der Zeit des Wolfs herrühren. Sobald er Kirchengeläut oder das Sirenengeheul von Feuerwehr, Rettung oder Polizei vernahm, setzte er sich aufs Hinterteil, streckte seinen Kopf gen Himmel und gab - sonst vollkommen ruhig, ohne eine besondere Gemütserregung erkennen zu lassen - ein langgezogenes Heulen von sich, das Heulen eines Wolfs! Als häufigste Erklärung für dieses Verhalten bekam ich zu hören, dass im Glockengeläut und im Sirenengeheul hohe Frequenzen enthalten sind, die vom Hund mit seinem extrem feinen Gehör als schmerzhaft empfunden werden, worauf er eben mit Heulen reagiert. Ich kann mit dieser Theorie nichts anfangen, sondern vermute vielmehr, dass es sich um Frequenzen handelt, die auch im Wolfsgeheul Vorkommen. Das heißt, ein Hund tut nichts anderes, als auf den Ruf des vermeintlichen Wolfsrudels zu antworten. Das erklärt auch, warum diese Reaktion auf Glocken und Sirenen gerade bei den nordischen Hunderassen am häufigsten auftritt, die mit dem Wolf am engsten verwandt sind. Wie auch immer, Ajiz heulte oft und offensichtlich auch gerne. In St. Sigmund sprang er dazu sogar auf die Brüstung der Terrasse, so als wolle er, dass er selbst gesehen und vor allem natürlich sein Heulen möglichst weit vernommen werde. Oft verließ er zu diesem Zweck sogar das Haus; Schmerzen im Gehörgang hätten wohl das Gegenteil bewirken müssen.
Da in Österreich besonders in den Dörfern die Kirchenglocken täglich mehrmals erklingen und jeden Samstag um zwölf Uhr mittags im ganzen Land die Sirenen der Feuerwachen in einem Testlauf erprobt werden, war Ajiz’ Wolfsgehabe in St. Sigmund regelmäßig zu bewundern. „Ajiz heult das Wochenende ein“, hieß es
Weitere Kostenlose Bücher