Auch unter Kuehen gibt es Zicken
Wenn die Nummernfolge unterbrochen ist (451, 455), dann heißt das, die dazwischen geborenen Kälber sind nicht auf der Alm. Wahrscheinlich waren das Stierkälber und sind schon verkauft oder geschlachtet.
Dann lasse ich eine Zeile aus und schreibe den Namen des nächsten Bauern. G-Bau’r.
Und darunter die Nummern seiner Viecher in aufsteigender Reihenfolge.
So verfahre ich mit allen Bauern-Namen und Viecher-Ohrmarkennummern.
Hinter jeder Ohrmarkennummer bleibt die Zeile Karos leer bis zur nächsten Spalte. Und in diesen Karos werde ich dann die Viecher abhakeln, draußen, beim Zählen.
Also.
Liste und Kugelschreiber einpacken. Almstecken mitnehmen. Vielleicht eine Dose Blauspray und Arnica-Globuli für leichte Verletzungen in den Rucksack, und los.
Zuerst versuche ich, einfach durchzuzählen. Wenn’s 99 sind, ist alles gut. Also. Eins, zwei, drei … neun, zehn … hab ich die hellbraun Gefleckte da vorn schon gezählt oder nicht? Und die daneben sieht genau gleich aus. Und ausgerechnet jetzt wird ihnen dort, wo sie stehen, das Gras langweilig, und sie trotten davon. Kreuz und quer!
Dann halt abhakeln. Ich gehe mit gezücktem Bleistift und unter den Arm geklemmten Almstecken auf mein erstes Opfer zu. Ein weißer Wuschelkopf mit so viel Haaren in den Ohren, dass die Marke nicht zu sehen ist. »Haaallo, Kuhdi«, säusle ich, »zeig mal her, deine Nummer!« Aber das Kuhdi läuft davon. Klar. Ich bin ja fremd. Wo läuft sie denn hin? Ist das eine von den Fallerer-Koima? Oder … nein. Die läuft … jetzt ist sie weg. Verschwunden.
Ich soll mir Gruppen einprägen, hat der Hias gesagt. Dann tu ich mich leichter. Die Koima aus einem Stall bleiben normalerweise auch auf der Alm beieinander. »Wennst’ siehgst – Fallerer, alle sieme do, na haklst’as natürlich alle auf oamoi ob.«
Aber dazu müsst ich die Faller-Koima von den anderen unterscheiden können. Und, tut mir leid, für mich sehen alle 96 gleich aus.
»Wenn oane oanzeln steht, dann is des meistns koa guad’s Zoacha. A Rind is ein Herdentier, woasst’«, hat Hias auch noch gesagt. Aber an so was will ich heute gar nicht denken.
Stur mach ich bei jedem Tier, dessen Ohrmarkennummer ich abgelesen habe, einen Punkt auf meiner Liste.
Das kann jeder Idiot.
Zwei Stunden später torkle ich, fast verzweifelt, zur Hütte zurück.
Laut meiner Liste sind da Viecher auf der Alm, die gar nicht existieren. Und zwei davon sind Kühe mit einem prallen Euter. Wo kommen die jetzt her? Und eins, das da sein sollte, fehlt.
Hias winkt nur ab, als ich ihm die Katastrophe schildere.
Das sind die Viecher von einem gewissen Bauern Bölz. Der kann sich nie entschließen, welche von seinen Kramp’n er dann schließlich auf die Alm bringt.
»Wos sei’ Oide hoid ei’dafangt, des bringt er«, schnaubt Hias. De Oide ist dem Bauern Bölz seine Frau. Und der Bauer Bölz hat eine Extrawurst. Und ich sehe deutlich, was Hias von derlei Extrawürsten hält. Ein Einkaufszettel, vollgeschmiert mit Ohrmarkennummern. Bölz.
Ich merke, dass auch ich extrem intolerant gegenüber Extrawürsten werde. Sie fordern zusätzliche Gehirnkapazität, die ich einfach nicht mehr habe. Wild schnaubend schreibe ich eine neue Liste. Und geh noch mal los.
Hias schleppt derweil die zehn Tragl Johannisbeerschorle, die er heut früh beim Getränkemarkt geholt hat, in den Keller.
»Do kimmst’ scho eina«, schreit er mir aus seinen Biertraglverlies hinterher. Mit der Zeit wird das Suchen schneller gehen. Ich werde mich in meinem Almgebiet auskennen. Ich werde meine Viecher am Gesicht erkennen und nach und nach die Nummer dazu auswendig wissen. Das erleichtert das Abhakln ungemein.
Eins fehlt. Immer noch.
Es könnte abgestürzt sein, ist mein erster Gedanke. Auch wenn auf meinem Almgebiet weder hohe Felsen noch steile Grate oder Rinnen sind.
Ich muss suchen. So lange, bis ich’s gefunden habe. Das ist mein Job.
Ich fluche und weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich laufe den Zaun ab. Kein Draht gerissen, kein Stempen umgedrückt. Ich könnt sie auch einfach übersehen haben. Und sie frisst sich friedlich mit ihren Freundinnen die Wampe voll. Ich werde ein drittes Mal durch die Herde laufen. Ein drittesMal die Ohrmarkennummern nicht lesen können, weil aus den Koima-Ohren Haarbüschel wachsen wie Unkraut.
»Hee!«, schreit da jemand. »Hol mal deine Kuh wieder zu dir rüber!«
Die Wirtin der Lauber-Hütte. Sie ist zornig. Zu Recht. Meine vermisste Koim steht vor ihren Blumenkästen. Ich
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