Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
liebte, in fü nf Särgen hatte beerdigen müssen. Jeder im Ort bekreuzigte sich noch immer, wenn von ihm und seinem Schicksal die Rede war. Oft legten Dorfbewohner oder auch Fremde Blumen auf das große Familiengrab. Auch Lona hatte schon manchen Feldblumenstrauß dort hingelegt. Sie hatte ihn bewundert, dass er nicht aufgegeben hatte, der Mann mit dem dunklen Haar und den leuchtend tiefblauen Augen. »Wie ein Franzose sieht er aus«, hatte sie einmal eine Frau beim Bäcker sagen hören. Aber seine Frau werden? All das Unglück, das er erlebt hatte – unwillkürlich schreckte sie davor zurück. Wie sollte das gehen?
» Aber Mutter, der ist doch viel zu alt.«
»Lona, er ist 31. Seine Frau ist jetzt seit drei Jahren tot. Er braucht wieder eine Frau für seinen Hof. Und er mag dich. Würde dich nehmen ohne Mitgift. Er sagt, da er weiß, was Kummer und Schicksalsschläge sind, könnte er sich vorstellen, wie es dir geht. Er findet, du wärst eine gute Frau für ihn.«
Lona war noch immer ganz benommen. Sie zerknü llte das Taschentuch in ihrer Hand. Wusste nicht, was sie sagen sollte. Und dann dachte sie, dass sie seit dem Brand so unendlich traurig war, so enttäuscht. Und wie schwer das für jemanden wäre diese Gefühle zu respektieren und mitzutragen. Plötzlich spürte sie eine Welle der Wärme, der Sympathie und des Mitgefühls für diesen Mann, der so viel mehr verloren hatte als sie. Vielleicht konnten sie sich gegenseitig helfen, zusammen noch einmal von vorn anfangen?
Ihr klopfte das Herz. Sie versuchte, klar zu denken. Ein Mann, eine Ehe? Was bedeut ete das? Zuallererst einmal heraus aus dieser Enge. Sie würde ihre eigene Herrin sein - keine Gaststätte mit derben Witzen. Sie konnte alles so machen, wie sie es wollte. Lorenz hatte einen schönen Hof. Sein Haus war zwar nicht so groß wie das ihrer Familie gewesen war, aber es schien gemütlich zu sein und genug Platz zu haben. Ein Leben als Bäuerin hatte sie sich früher schon manches Mal vorgestellt. Sicher würde sie viel Arbeit haben. Aber sie hätte bestimmt ein Mädchen, da ihr zur Hand gehen würde.
Sie wurde immer aufgeregter. Lorenz war eigentlich ein hübscher, anziehender Mann. Wie es wohl sein würde? Und dann die Hauptfrage.
» Mutter, will er denn noch einmal Kinder haben? Ich möchte unbedingt Kinder. Kann er denn überhaupt seine Frau vergessen und mich lieb haben?«
» Natürlich werdet ihr noch Kinder haben und sicher mag er dich jetzt schon. Sonst würde er diese Ehe bestimmt nicht wollen. Er ist doch so allein in seinem Unglück. «
Ihre Mutter schaute ihr in die Augen. Lona schien plö tzlich viel reifer und selbstbewusster zu sein.
» Gut, Mutter, ich werde mich mit ihm unterhalten. Wann werde ich ihn sehen?«
Plö tzlich spürte sie Ungeduld. Wie würde ein Gespräch mit ihm sein? Würde er sie schön finden? Klug genug?
Heiraten. Sie konnte es sich noch nicht vorstellen.
Kapitel 7
Lene sah aus dem Flugzeugfenster. Unter ihnen lag die dichte Wolkendecke, sie aber flogen durch einen strahlend blauen Himmel.
Sie merkte, dass sie von Lorenz ’ Geschichte tief berührt war. Was für ein tragisches Schicksal! Nicht von irgendjemandem, sondern von ihrem eigenen Urgroßvater. Und Lona? Plötzlich wurde sie für Lene lebendig – ein junges Mädchen. Sie war nicht länger eine alte Frau aus den Erinnerungen der Mutter und Großmutter, auf sepia vergilbten Fotos irgendwie dunkel gekleidet mit strenger Frisur. Sie wurde zu einer jungen, erwartungsvollen Frau, die durch die Ereignisse verletzt und von dieser Enttäuschung geprägt worden war. Und es war diese Prägung Lonas, die die ganze nächste Generation beeinflusst hatte, eigentlich sogar bis zu ihrer, Lenes Generation - alle, die danach gekommen waren. Ihre eigenen Kinder auch? fragte sie sich, während sie Sophies schlafendes Gesicht betrachtete, das plötzlich auch Joannes Gesicht war.
Die Stewardess kam mit dem Mittagessen. Sophie wurde wach. Sie genossen die franzö sische, so vertraute Art zu essen. Selbst im Flieger schafften es die Franzosen sich treu zu bleiben. Apéritif – un verre du champagne ou du vin?
Nach dem Essen erzä hlte Lene Sophie von Lorenz’ Unglück und Lonas Mut, diese Ehe, die vielleicht ursprünglich als Sprungbrett, als Fluchtversuch aus einer unmöglichen Situation akzeptiert worden war, einzugehen. Sophie war erschüttert, als sie von Lorenz hörte.
» Wie kann man so etwas überleben? Ich bin froh, dass Lona diesen armen Mann
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