Auf Befehl des Königs
an der Tafel, sogar Orricks Mutter, schauten in ihre Richtung. Deshalb tauchte sie den Löffel in den unansehnlichen Brei und führte ihn zum Mund. Dies war das Zeichen, auf das alle in der Halle warteten, um mit der Mahlzeit zu beginnen. Sie brachte es nicht über sich, mehr als einen Bissen zu essen. Damit sie den Fischgeschmack im Mund wieder loswurde, kaute sie noch etwas trockenes Brot.
Während alle außer ihr mit großem Appetit ihre Teller leerten, sich eine zweite Portion nachfüllten, Brot und Käse aßen, dazu Bier tranken, wich die beklemmende Stille und die Leute redeten miteinander. Allerdings wollte sich die sonst so lärmende Stimmung nicht einfinden. Immer wieder flogen heimliche Blicke zu Marguerite. An der Hochtafel beachtete sie keiner, niemand bezog sie in die Gespräche ein. Ihre Versuche, sich mit ihren Tischnachbarn zu unterhalten, blieben vergeblich. Also gab sie sich damit zufrieden, zuzuhören, und bemühte sich, den schweren Dialekt zu verstehen. Die Männer redeten von der Jagd, von den Wehrübungen, von der Arbeit und vom Wetter. Die Frauen sprachen über Handarbeiten, Familiensorgen, Kinder und ebenfalls über das Wetter. Jedes Mal, wenn sie versuchte, etwas beizusteuern, wechselten sie das Thema, und Marguerite hatte wieder Mühe, den Sinn zu erfassen.
Dieses Ignorieren war etwas völlig Ungewohntes für sie. In ihrer Kindheit und Jugend galt sie als die große Hoffnung ihres Vaters auf eine Verbindung zum Königshaus. Ihr Halbbruder, der eheliche Sohn ihres Vaters, hatte zwar Anspruch auf sämtliche Ländereien und Titel der Familie, dennoch garantierte ihr der Rang ihrer Familie eine gehobene gesellschaftliche Stellung bei Hofe. Als Henrys Favoritin genoss sie weitere Privilegien. Sie war die anerkannte Dame seines Herzens, und jeder, der in der Gunst des Königs aufsteigen wollte, wusste, dass der Weg über sie und ihre Fürsprache führte. Aber hier in Silloth war sie eine Außenseiterin ohne Macht und Einfluss, und der heutige Tag hatte ihr Feinde gebracht, die sich ihr noch nicht zeigten.
Als das Mahl sich dem Ende neigte, winkte sie Orricks Kammerdiener Gerard zu sich.
"Denkst du, Lord Orrick wird sich heute Abend noch zu uns gesellen?", fragte sie ihn leise. Gerard wirkte verlegen, besorgt sah er sich unter den Gästen um. Marguerite wusste, ohne seinem Blick zu folgen, bei wem er Rat suchte.
"Nein, Mylady", antwortete er in Englisch. "Der Lord hat mich wissen lassen, dass er auch nach der Mahlzeit nicht in die Halle kommen wird."
"Ist er ausgeritten? Wenn ja, wohin?", fragte sie.
Er errötete noch tiefer, schluckte, bevor er stammelnd zu einer Antwort ansetzte. "Ich … ich weiß es nicht, Mylady."
Marguerite indes ahnte, was hinter seiner Ausrede steckte – wir alle wissen, wo er ist, aber das verraten wir dir nicht.
"Nun gut, da alle gesättigt sind, werde ich mich zurückziehen." Sie erhob sich, alle Anwesenden standen gleichfalls auf. "Norwyn, sorge dafür, dass Lord Orrick ein Imbiss auf sein Gemach gebracht wird."
Der Burgvogt verbeugte sich höflich, aber beiden war klar, was ihre Order eigentlich aussagte. Sie glich einer kaum verhohlenen Zurechtweisung. Die Unterstellung, der Verwalter müsse an seine Aufgaben gemahnt werden, bedeutete nichts anderes, als dass sie ihn für pflichtvergessen hielt. Marguerite konnte nicht erklären, weshalb sie Norwyn tadelte. Sie fühlte sich lediglich gekränkt, als Aussätzige behandelt zu werden.
Sie nickte Edmee zu, verließ die Hochtafel und begab sich ins Obergeschoss zu ihrem Zimmer. Vor Orricks Tür blieb sie kurz stehen, hörte aber nichts, was auf seine Anwesenheit schließen ließ. Er hatte sich also nicht frühzeitig zu Bett begeben, sondern die Burg verlassen. Beim Betreten ihrer Räumlichkeiten kam ihr in den Sinn, dass der Schotte ebenfalls nicht am Nachtmahl teilgenommen hatte. Sie vermutete, die Freunde wären gemeinsam unterwegs. Als die Tür hinter ihr geöffnet wurde, dachte Marguerite, es sei ihre Zofe, die ihr beim Auskleiden helfen wollte. Zu ihrer Überraschung vernahm sie aber die Stimme von Lady Constance.
"Ihr habt kaum etwas gegessen."
Marguerite fühlte sich erschöpft von den unangenehmen Vorfällen des vergangenen Tages und verspürte keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit Orricks Mutter. Im Übrigen war sie ihr keine Erklärung schuldig.
"Eure Fürsorge ist unbegründet. Ich habe genug zu mir genommen." Sie machte sich an ihrem Frisiertisch zu schaffen und ordnete Kämme und
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