Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf Couchtour

Auf Couchtour

Titel: Auf Couchtour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Wickmann
Vom Netzwerk:
nicht mehr. Die Fahrt dauerte länger, als ich erwartet hatte. Mittlerweile waren genug Sitzplätze für uns frei geworden, aber wir wollten lieber stehen bleiben. Troy und Peter tauschten weiter rege Erinnerungen aus und erheiterten mit ihren Parodien ein Publikum, das in den vorderen Reihen mithorchte. Ich wandte mich wieder den hinter uns Sitzenden zu und fuhr mit meinen Gesichtsstudien fort. Ein Mädchen mit verquollenen Augen saß auf einem Fensterplatz und drückte ihre Stirn an die Scheibe. Sie starrte teilnahmslos auf die Nebelwölkchen, die ihr Atem auf das Glas hauchte. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß und zupften an einem zerknüllten Fetzen Papier herum. Liebeskummer – hundertpro. Auf diesem Zettel stand geschrieben, was irgendein feiger Kerl sich nicht zu sagen traute. Ich wäre so gerne zu ihr rübergegangen und hätte sie mit einem ›Es geht bald vorbei‹ getröstet, aber das wäre eine Lüge gewesen, die selbst ich nicht glaubhaft über die Lippen bringe. Es dauert ewig, und ihre Ewigkeit hatte gerade erst begonnen.
    Ein hutzeliges Omchen parkte ein Geschenk auf dem Sitz rechts neben sich. Es war riesig und, nach dem Geschenkpapier zu urteilen, für ein Kind bestimmt. Sie legte ihren Arm um das Paket und musterte misstrauisch jeden, der an ihr vorbeiging. In London wimmelte es garantiert von Diebesgesindel, das mit Vorliebe in Knallbonbon-Papier eingewickelte Schaufelbagger stibitzte. Wenn man schon in den Knast wanderte, musste es sich ja lohnen.
    Ein pubertierender 1 5-Jähriger beschallte sich via Handy und Kopfhörer mit Death-Metall – so laut, dass jeder mithören musste. Sein überheblicher, supercooler Gesichtsausdruck ging mir tierisch auf die Nerven, ehrlich, ich war kurz davor, ihm sein Ed-Hardy-Cap über die Ohren bis auf die Schultern herunterzureißen. Ätzend.
    Ich taxierte Fahrgast für Fahrgast und stempelte einen nach dem anderen mit meiner Interpretation seines Gemütszustandes ab. Plötzlich bemerkte ich, dass mich auch jemand beobachtete. Ich sah es nicht, sondern spürte es. Es war wie im Flugzeug, als wir den Neugierigen die Sicht auf den erdrosselten patzigen Rücken versperrt hatten, so ein unangenehmes Prickeln, gefolgt von einer Gänsehaut, die sich von meinem Nacken bis zu den Zehenspitzen ausbreitete. Spielte da jemand gerade genau wie ich Psychologe und analysierte mich? Ich traute mich nicht, dem unsichtbaren Signal zu folgen, das mich zunehmend drängender aufforderte, meinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der mich die negativen Schwingungen erreichten. Warum eigentlich? Ich hatte doch nichts zu befürchten. Was sollte mir passieren mit Scotland-Yard-Troy, Gummi-Axt-Peter und dem Rest der Truppe als Beschützer? Trotzdem, mir war auf einmal total mulmig zumute. Ich fühlte mich so … ausgeliefert. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, und ging in Gedanken die Gesichter der letzten Reihen durch. Instinktiv wusste ich, dass ich genau dort meinen Beobachter finden würde. Das Ehepaar mit dem Spitz, der ständig am Hosenbein seines Herrchens herumzerrte? Nein. Die Frau, die so nervös mit den Beinen zappelte, weil sie dringend Nikotin brauchte, um sich wieder zu beruhigen? Nein, nein, Rita, konzentrier dich, der Mann … ach du Scheiße … dieser verwahrloste, schmierige Typ im schwarzen Ledermantel, mit den fettigen, langen, dünnen Haaren und den zusammengewachsenen Augenbrauen. Der war so ekelig, Charline, so ekelig, dass ich ihn nur grob überflogen und gleich wieder verdrängt habe, weil mich bei der Betrachtung seiner boshaften, abartigen Fratze das kalte Grauen gepackt hatte. Er war der Einzige, von dem meine Musterung mit einem ebenso abschätzenden Blick beantwortet wurde. Mit Sicherheit ein Vergewaltiger, Massenmörder, Tierquäler – ein durch und durch skrupelloser Mensch, dem das Blut unter den Fingernägeln niemals trocknete.
    Der Platz neben ihm war frei und würde es bleiben. Niemand bei Verstand käme auf die Idee, sich in seine Nähe zu wagen. Allein die Vorstellung, dass mich diese Kreatur begaffte, jagte mir dermaßen Angst ein, ich war kurz davor, die Notbremse zu ziehen und aus dem Abteil zu flüchten. Stattdessen riss ich mich zusammen und hakte mich bei Troy unter, der gerade, voll in seinem Element, durch meinen Klammergriff ausgebremst wurde. Es war mein Abend, verdammt noch mal, und den würde ich mir von niemandem verderben lassen. ›Was ist denn mit dir los, ist dir schlecht? Du bist so blass!‹ Wie süß, Troy machte sich Sorgen

Weitere Kostenlose Bücher