Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
Neutralströme seien entdeckt worden, und das Ergebnis wurde publiziert. Der meistgelesene Artikel der Physik, der niemals offiziell publiziert wurde, ging kurz darauf, im Dezember 1973, als informelles Schreiben beim CERN ein. Eine amerikanische Forschergruppe hatte die unerwünschten Neutronen mit einer neuen Methode verringert und in der Folge keine neutralen Ströme mehr gefunden. Am CERN war man alarmiert, die wissenschaftliche Reputation stand auf dem Spiel, der Direktor schrieb Durchhalteparolen an die Mitarbeiter. Schließlich änderte die Konkurrenz ihr Experiment nochmals ab, und nach einigem Hin und Her einigte man sich am Ende darauf, dass Neutralströme doch existierten, während das widersprechende Paper nie bei einer Zeitschrift eingereicht wurde. Interessant ist die Sichtweise eines der Autoren: 177
„Als die Ergebnisse herauskamen, wurden wir mehr und mehr zu einer eindeutigen Antwort zu der Frage gedrängt. Es ist schwer zu beschreiben, wenn man zu dieser Zeit im Zentrum des Geschehens stand, vor allem in der Hochenergiephysik, wo man fast keine Kontrolle über sein Schicksal hat … Du musst mit deinen Mitarbeitern auskommen, dem Labor, dem Direktor, dem Programmkomitee, und mit all den Leuten, die sich darum kümmern, dass das Experiment bewilligt wird. Dir wird immer wieder beigebracht zu produzieren, ob du bereit bist dazu oder nicht.“
Die elektroschwache Theorie war damit endlich allgemein anerkannt, oder, wie man so schön sagt, ‚etabliert‘. Es fehlten noch die Quarks, die einige Widerspenstige noch immer für eine exotische Spekulation hielten.
BOTANISCHER GARTEN 2.0
Die erste Version des Quark-Modells war mit lediglich drei Exemplaren ‚Up‘, ‚Down‘ und ‚Strange‘ noch relativ spartanisch: Kombinationen davon ergaben mittelschwere Teilchen wie das Pion und Kaon, während Proton und Neutron aus je drei Quarks bestehen sollten. Glaubt man der Legende, kam der überraschende Durchbruch für das Quark-Modell mit der gleichzeitigen Entdeckung des Teilchens Charmonium in zwei verschiedenen Laboratorien: [57] Charmonium galt als Quark-Antiquark-Paar einer vierten Sorte ‚Charm‘. In Wirklichkeit war diese Überraschung lange ersehnt, denn die Daten von Elektron-Positron-Kollisionen am Beschleuniger SLAC zeigten schwerwiegende Widersprüche zum vorherigen Modell. 178 Diese konnte man nun auflösen, aber natürlich um den Preis einer Komplizierung mit weiteren freien Parametern.
Wissenschaftstheoretisch ist das alles andere als ein Fortschritt, aber von Reflexionen über die Einfachheit der Naturgesetze hatte sich die Teilchenphysik längst verabschiedet. Stattdessen feierte man. Obwohl die Zustände höherer Energie des Charmoniums sogar falsch vorhergesagt wurden, wurde ihre bloße Existenz als Triumph betrachtet. 179 Zwei Messungen dazu am Hamburger Beschleuniger DORIS stellten sich im Nachhinein als Artefakte heraus, was jedoch niemanden interessierte, nachdem sich das Modell durchgesetzt hatte. 180 Das Charm-Quark war ein perfektes Instrument geworden, mit dem man Diskrepanzen zwischen Vorhersagen und Daten als neues Ergebnis statt als Widerspruch deuten konnte. Die Physik folgte einem simplen Prinzip: Je mehr Teilchen, desto mehr Erklärungsmöglichkeiten. Ist es nicht toll, was man alles verstehen kann?
Eigentlich sollte ich hier die weitere Entwicklung wiedergeben, doch die Ereignisse um die ‚Entdeckung‘ des Charm-Quarks scheinen mir so absurd, dass ich mich zu einer vernünftigen Chronik außerstande sehe – ich glaube einfach nicht daran, dass diese immer neuen Reparaturen von Widersprüchen, die mich an ein Scrabble-Spiel erinnern, noch einen Sinn ergeben. Daher nun sehr summarisch: Das Spiel wiederholte sich mit einer dritten ‚Familie‘ von Quarks, von der 1977 der erste Partner, ‚Bottom‘, entdeckt wurde. Forschergruppen, die sich mit leichten Teilchen (‚Leptonen‘) beschäftigten, versuchten gleichzuziehen und rechtfertigten ein leichtes Teilchen der dritten Familie, das bald als ‚Tau‘ das Licht der Welt erblickte.
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Vor kurzem wurde ein drittes Lepton, das Tau entdeckt … Ist das nur der Anfang einer endlichen oder unendlichen Reihe von Leptonen? – Emilio Segrè
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Das zum ‚Bottom‘- gehörige ‚Top‘-Quark sträubte sich noch bis 1995, ehe man sich nach einer langen nächtlichen Verhandlungsrunde darauf einigte, es entdeckt zu haben. Ja, auch dafür gab es einen Nobelpreis, 2008. Die im Vergleich zu allen anderen riesige Masse
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