Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
dich?« Marnie wirkte fasziniert.
»So ungefähr. Und wenn ich Botschaften erhalte, ist es, als hätte mir jemand im Vorbeigehen etwas zugeflüstert. Meistens verstehe ich nur so siebzig Prozent und nur ganz selten weiß ich, was es bedeutet oder was ich damit anfangen soll.«
»Wow.«
»Und manche von den Toten sind unglaublich hartnäckig. Sie ärgern sich über mich, wenn ich nicht kapiere, was sie wollen, und kommen immer und immer wieder.« Bei diesem Gedanken verdrehte sie die Augen. Viele Male hatte sie schon gewünscht, es würde einfach aufhören. Es wäre so schön, sich mit einem guten Buch irgendwo hinzukuscheln oder ein Nickerchen zu machen, ohne gestört zu werden. Dass sie keine Kontrolle über ihre eigene Freizeit hatte, war entnervend. Sie konnte nicht einfach die Tür hinter sich zumachen. Nichts hielt die Geister ab.
»Wie oft passiert dir das denn?«
Jazzy legte den Kopf schief und dachte nach. »Mindestens einmal pro Woche. Manchmal täglich.«
»Vielleicht ist so was doch nicht so cool«, meinte Marnie.
»Manchmal ist es auch gar nicht so schlecht«, gab Jazzy zurück. »Manchmal kann ich Leuten helfen. Einmal habe ich eine Frau gesehen, die an einem Imbissstand im Shoppingcenter etwas aß, und dabei andauernd eine Stimme gehört:
Sag ihr, sie soll in der Innentasche nachschauen. Sag ihr, sie soll in der Innentasche nachschauen.
Ich wusste, dass das in Verbindung mit der Quilttasche stand, die vor ihr auf dem Tisch lag. Ich ging zu ihr und sagte, ich fände ihre Handtasche so schön, wo ich die wohl kaufen könnte. Sie antwortete, die gebe es nicht zu kaufen, ihre Mutter hätte sie gemacht. Sie erzählte, dass ihre Mutter Quilts gemacht hätte und eine sehr geschickte Näherin gewesen war. Die Tasche war das letzte gewesen, was sie vor ihrem Tod noch hergestellt hatte. Ich sagte, ich würde auch so eine Tasche nähen wollen, und ob sie wohl eine Innentasche habe. Sie antwortete, ja, aber sie würde sie nie benutzen, weil sie sich an einer unpraktischen Stelle befand.«
Jetzt war Marnie ganz Ohr. »Und was ist dann passiert?«, fragte sie.
»Ich habe sie gebeten, mich die Innentasche einmal sehen zu lassen. Sie hielt mich wohl allmählich für eine Spinnerin, aber sie machte die Handtasche auf und zeigte mir eine Reißverschlusstasche ganz unten am Boden. Ich sagte, oh, das wäre der perfekte Ort, um etwas Wertvolles zu verstecken. Als ich das sagte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, aber sie erwiderte nichts. Ich bedankte mich bei ihr, ging zu meinem Tisch zurück und tat so, als äße ich meine frittierten Süßkartoffeln, aber ich warf immer wieder mal einen heimlichen Blick in ihre Richtung.«
»Und dann hat sie in die Innentasche geschaut«, sagte Marnie.
»Genau. Und sie hat einen Ring herausgezogen«, erwiderte Jazzy. »Du glaubst nicht, wie ihr Gesicht da aufgeleuchtet hat.«
»Und du hast ihr nicht erzählt, woher du Bescheid wusstest?«
»Oh, nein.« Jazzy zuckte entsetzt zurück. »Damit habe ich immer Pech gehabt. Wenn ich es ihr gesagt hätte, hätte sie gedacht, ich sei verrückt oder ein Scharlatan. Oder sie hätte mich damit genervt, dass ich es noch einmal tun soll. Glaub mir, man lernt ziemlich schnell, was die Leute so akzeptieren.«
Marnie blickte nachdenklich drein. »Diese Leute, die dich dort drinnen angestarrt haben«, sie zeigte zurück, »was hat dich vor ihnen gewarnt? Hat ein Geist dir gesagt, dass sie von deiner Begabung als Medium wissen?«
Jazzy hatte die drei beinahe vergessen. Aber nur beinahe. »Nein. Ich habe eine sehr gute Intuition. Das ist für ein Mediumwahrscheinlich normal. Ich spüre es, wenn jemand lügt oder glaubt, dass ich lüge. Ich merke es, wenn jemand versucht, etwas zu verbergen. Und ich weiß es, wenn jemand etwas weiß.«
»Was ist denn schlimm daran, dass sie Bescheid wussten? Wovor hattest du Angst?«
Jazzy stieß die Luft aus. »Ich weiß es nicht. Ich hatte so ein unheimliches Gefühl, ungefähr so, als würden sie mich nackt sehen. Normalerweise wollen die Leute etwas von mir, wenn sie herausfinden, dass ich ein Medium bin. Oder sie behandeln mich anders. Ich hasse das.«
»Für dein Alter hast du einiges zu schultern«, meinte Marnie. »In dieser Phase deines Lebens solltest du eigentlich sorgenfrei sein. Aufs College gehen oder reisen. Mit Freunden ausgehen.«
»Mir geht es gut«, erwiderte Jazzy. »Meine Großmutter war genauso wie ich. Als ich älter wurde, hat sie mich sehr gut über unser besonderes Talent
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