Auf den Flügeln des Adlers
konnte er nicht feststellen, was es war. Er hielt nichts von Missus Rankins Diagnose, die davon überzeugt war, dass ein alberner Eingeborenenzauber an allem schuld sei. Die Frau war ehemalige Krankenschwester und hätte es wirklich besser wissen müssen, als die Erkrankung irgendeinem abergläubischen Unsinn zuzuschreiben. »Ich fürchte, wir können nicht viel mehr tun, als dafür zu sorgen, dass sie nicht zu viel Flüssigkeit verliert, Missus Rankin«, meinte er seufzend. »Ich muss zugeben, dass ich die Ursache des Fiebers nicht feststellen kann.«
»Ich habe größten Respekt vor Ihrer Qualifikation, Doktor Blayney«, sagte Adele, während sie Sarahs vom Fieber glühende Stirn abtupfte, »aber Sie müssen mir glauben, dass ich hier draußen viele Dinge gesehen habe, die mit unserer wissenschaftlichen Sichtweise der Welt nicht vereinbar sind.«
Der Arzt wusch sich in einer Emailschüssel neben dem Bett die Hände. »Warum sind Sie so sicher, dass es sich um einen Eingeborenenzauber handelt, wenn ich fragen darf, Missus Rankin?«, erkundigte er sich, während er sich die Hände an einem sauberen Tuch abtrocknete.
»Weil sie sich am Abend, bevor sie sich für die Nacht zurückzog, noch bester Gesundheit erfreute«, erwiderte Adele. »Aber später hörte ich sie laut rufen, als würde sie mit jemandem in ihrem Zimmer streiten. Natürlich machte ich mir Sorgen, weil ich dachte, einer der Viehhirten wäre vielleicht ins Haus eingedrungen. Als ich ins Zimmer kam …« Sie zögerte und nahm das Tuch von Sarahs Stirn, um dem Mädchen ins Gesicht zu blicken. »Ich weiß, dass das, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, für Sie wie das Gerede einer dummen Frau klingen wird, Doktor, aber ich sage es Ihnen trotzdem.«
»Ich glaube kaum, dass ich Sie jemals für dumm und oberflächlich halten würde, Missus Rankin«, erwiderte er mit aufrichtigem Respekt, denn er hatte davon gehört, wie sie den Kranken und Verwundeten der Gegend unter schwierigsten Bedingungen praktischen Beistand leistete.
»Nun, als ich in Sarahs Zimmer kam, hätte ich schwören können, dass sich dort ein« – sie suchte nach den richtigen Worten – »ein Wesen … ein Geist oder ein Gespenst aufhielt. Ich glaube, es war ihr toter Bruder. Das Mädchen befand sich in einem tranceähnlichen Zustand und diskutierte mit ihrem Bruder, als wäre er so real wie Sie und ich.«
»Worüber stritten sie sich?«, wollte der Doktor wissen. Er musste zugeben, dass er bei ihrer Schilderung ebenfalls den Hauch einer primitiven Furcht spürte.
»Sie stritten sich nicht richtig, sie schien ihn eher um Vergebung anzuflehen. Vermutlich dafür, dass sie ihre Liebe zu Inspektor James eingestanden hat.«
»Aber warum sollte ihr Bruder ihr deswegen verzeihen müssen?«, fragte der Arzt, der diese unerklärlichen Vorgänge höchst verwirrend fand.
»Inspektor James hat ihren Bruder letztes Jahr auf Glen View getötet. Damals verfolgte er ihn und einen alten Ureinwohner namens Wallarie.«
»Es gibt eine Theorie, dass der Geist ebenso unter Krankheiten leiden kann wie der Körper«, räsonierte der Doktor. »Ich vermute, dass Miss Duffy unter entsetzlichen Schuldgefühlen leidet und dass das auf eine uns bisher unverständliche Weise ihre Krankheit ausgelöst hat. Meine Hypothese ist ein wenig dürftig, aber im Moment fällt mir keine andere rationale Erklärung ein.«
»Sie mögen Recht haben, Doktor Blayney«, erwiderte Adele, doch in ihrer Stimme lag der Hauch eines Zweifels. »Aber das Mädchen ist halb Darambal, und ihr Volk hat seine eigenen Erklärungen dafür, warum Menschen krank werden. Wer sagt, dass sie sich täuschen?«
»Das Mädchen ist auch halb weiß«, wandte er sanft ein. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieser Aberglauben sie so im Griff hält. Soviel ich weiß, hat sie eine ausgezeichnete europäische Erziehung genossen. Das sollte Grund genug sein, um nicht auf diesen Eingeborenen-Blödsinn hereinzufallen.«
»Das kommt darauf an, wohin ihre Seele gehört«, sagte Adele leise, während sie mit den Fingern sanft über Sarahs langes, dunkles Haar strich. »Zu uns oder zum Volk der Darambal.«
Doktor Blayney sammelte seine medizinischen Gerätschaften aus Europa ein und verstaute sie in der kleinen Tasche, die er mit sich trug. Ganz offensichtlich halfen sie in der gegenwärtigen Situation nicht. Er wusste, wann der Tod im Raum war.
Er überließ es Adele, sich um das kranke Mädchen zu kümmern, und ging zu Gordon und Humphrey Rankin, die
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