Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult

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Ihnen die Geheimnisse des Universums offenbaren. Sie haben keine Hemmungen, mich als Arschloch zu bezeichnen, wenn ich mich wie ein Arschloch aufführe. Und«, sagte er, »Sie erzählen mir vom Blaubeerpflücken, so wie vorhin, bis ich die Flecken auf Ihren Fingern und Ihren Lippen sehen kann. Cassie, wenn das keine Schönheit ist, was dann?«
    Er beugte sich langsam vor, und als er mich küßte, riß ich die Augen weit auf, weil ich sehen wollte, ob ihn der Kuß genauso überwältigte wie mich. Ich spürte, wie mich der schwere weiße Mond über meinen Schultern näher zu Alex schob. Ich hörte das stete Klopfen seines Herzens und das leise Surren der Ventilatoren in der Lodge, und schließlich begann ich zu glauben, daß all das wirklich geschah.
    Als er sich wieder aufrichtete, ließ er seine Finger an meinem Hals, und sie zitterten. Ich lächelte ihn an. »Von einem Fleck auf meinen Lippen habe ich nichts gesagt.«
    Alex legte mir den Arm um die Taille. »Langsam glaube ich, das wird der beste Film meines Lebens«, erklärte er. Er führte mich die Stufen zur Lodge hoch und in den Korridor. Es war stockdunkel; die meisten aus der Crew waren schon schlafen gegangen, weil es am nächsten Tag früh losgehen sollte. Er stieg neben mir die Treppe hoch und brachte mich bis zu meiner Tür. Ich spürte, wie er sich bei jedem Schritt ein bißchen von mir entfernte. Als wir vor meinem Zimmer angekommen waren, fragte ich mich, ob ich mir alles nicht nur eingebildet hatte.
    Alex wandte sich mir zu, als wolle er mich noch mal küssen, aber statt dessen begann er hastig und gepreßt zu flüstern. »Mein Vater war gar kein Arzt«, sagte er. Mir fiel auf, daß seine Stimme tiefer, kehliger klang; daß seine Augen brannten wie vorhin, als er von Angst und Versagen gesprochen hatte. »Er war nur ein einziges Mal in einer Arztpraxis, damals, als er sich nach einer Flasche Scotch in den Fuß geschossen hatte. Ich war für ihn eine einzige Enttäuschung, weil ich einfach nicht so ein Arschloch werden wollte wie er, und er hat mich in regelmäßigen Abständen verprügelt, um mich daran zu erinnern, wie viel besser er war als ich. Meine maman konnte eine Treibhausblume nicht von einem Plastikgesteck unterscheiden. Ich habe ihr Schmerzen bereitet, als sie mich auf die Welt brachte, das hat sie mir nie verziehen. Ich habe meine Kindheit damit zugebracht, mich vor meinen Eltern und vor mir selbst zu verstecken, indem ich so tat, als sei ich jemand anderes. Und das Haus, das ich in L. A. gebaut habe, steht tatsächlich in New Orleans - aber ich habe es bloß gesehen, wenn ich mich im Wäldchen davor versteckte und den kleinen Mädchen, die dort lebten, zuschaute, wie sie auf dem Rasen Purzelbäume schlugen, bis ihnen die Röckchen hochrutschten.« Er atmete tief durch. »Die Scheiße, die ich Ihnen beim Essen erzählt habe, ist die Geschichte, die meine PR-Beauftragte für mich geschrieben hat, als ich ihr erklärte, daß ich eine Vergangenheit brauchte. Aber Sie will ich nicht anlügen, und ich will Ihnen nichts vorspielen.«
    Mir blieb der Mund offenstehen. Ich wollte ihm sagen, daß mir dies – die finstere Wahrheit - viel besser gefiel als sein Alter ego. Ich wollte ihn berühren, ihm nun meinerseits von meiner Mutter, meiner Familie erzählen.
    Meine Hände berührten das weiche Haar, das sich an seinen Schläfen lockte. Zweimal hatte er mir in dieser Nacht die Wahrheit anvertraut, und dafür würde ich ihm helfen. Ich war dazu besser geeignet, als er sich vorstellen konnte. Er flüsterte meinen Namen, und ich schmiegte mich an ihn, fuhr mit den Händen über seinen Rücken und stellte verwundert fest, wie gut wir zusammenpaßten. Und bevor unsere Lippen sich trafen, schoß mir durch den Kopf, daß Alex Rivers ein viel besserer Schauspieler war, als sich die Leute träumen ließen.

12

    Eine Woche nachdem ich angefangen hatte, meine Freizeit ausschließlich mit Alex Rivers zu verbringen, begann ich nachts von Connor zu träumen. Es war immer wieder derselbe Traum. Connor und ich waren erwachsen, aber wir lagen auf dem Rücken auf einem der Badeflöße im Moosehead Lake. Connor hatte einen Finger in den Himmel gestreckt und zeichnete die Wolken nach. »Was siehst du?« fragte er mich immer wieder, aber für mich sah jede Wolke wie Alex aus - wie sein Profil, sein windzerzaustes Haar, sein kraftvolles Kinn. Ich erklärte das Connor und begann schließlich sogar mit blasser Hand vor dem strahlend blauen Sommerhimmel zu