Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
ich mit dem Tiramisu deiner Mutter lieber machen würde, als es zu essen.« Und dann hatte ich ihn einfach weggedrückt. Es war unfair und gemein, und ich war die schlechteste Ehefrau seit Henry VIII. 2 , aber ich konnte es nicht ändern.
Mein Herz konnte es nicht ändern.
Die Rolltreppen hoch zum Bahnhofsgebäude schienen förmlich zu fliegen, und mein kleiner Sprint hinüber zu Starbucks war olympiareif, wenn ich auch gewünscht hätte, dass er meine Frisur nicht ganz so zerzaust hätte.
Und nun stand ich hier, zupfte nervös an meinem Haargummi und hielt Ausschau nach samtblauen Augen, wobei ich versuchte, mein grenzdebiles Grinsen einigermaßen unter Kontrolle zu halten, um nicht kleine Kinder, alte Leute mit Herzschrittmachern und die Starbucksbedienung zu verschrecken. Das gelang allerdings nur bedingt, weil ich ständig an das Leuchten in Mathias’ Augen denken musste. Und wie gut er roch und wie witzig er erzählen konnte und wie wunderbar seine Stimme klang.
Und daran, wie sich wohl seine Küsse anfühlten.
Ich war immer schon empfindlich gewesen, was Küsse betraf, und in meiner (zugegeben vermutlich wissenschaftlich nicht relevanten, weil zu mageren) Kussstatistik schnitten die Männer im Durchschnitt nicht besonders gut ab. Von den neun Männern, mit denen ich bisher in meinem Leben herumgeknutscht hatte (beginnend mit meinem vierzehnten Lebensjahr, damit ich die Küsse von Cousin Bertram nicht mitzählen musste), hatte einer geküsst wie ein toter Fisch, sechs hatten schreckliche Dinge mit ihren Zungen versucht (Stochern, Rühren, Züngeln, Höhlenforschung …) und nur zwei (Felix war einer davon) hatten es richtig gut draufgehabt. Die Frage war, ob Mathias mit einem von beiden würde mithalten können.
Oder vielleicht war die Frage auch, ob Mathias mich überhaupt küssen wollte.
Und wo er eigentlich blieb.
Hektisch sah ich auf die große Bahnhofsuhr. Vierzehn Uhr vierunddreißig. Sein Zug ging in vierundzwanzig Minuten. Er hatte gesagt, sein Hotel läge nur eine U-Bahn-Station vom Bahnhof entfernt, eigentlich hätte er sogar noch vor mir da sein müssen. Hatte er es sich anders überlegt?
Plötzlich erschien mir die Sache mit meiner Straßenbahn, die mich in Rekordzeit hierhergebracht hatte, höchst verdächtig. Das war viel zu einfach gewesen. So etwas machte das Schicksal nicht, zumindest nicht mit mir. Wahrscheinlich wollte es, dass ich wieder zur Besinnung kam und überlegte, wie lange man wohl in so einem Fall warten durfte, ohne die Selbstachtung zu verlieren.
Die Minuten verrannen. Mein Handy blieb dunkel und still, der Zeiger der großen Uhr rückte erbarmungslos vor. Neunzehn Minuten noch, dann ging sein Zug. Um mich herum waren alle Augenfarben dieses Planeten vertreten, von Jägergrün bis Linoleumbraun, sogar ein wüstengelbes Paar konnte ich ausmachen (auf einem Plakat). Aber Samtblau? Fehlanzeige.
Noch sechzehn Minuten.
Meine Schultern sanken herunter. Wenn ich ehrlich war, konnte ich es Mathias noch nicht einmal verdenken, dass er hier nicht auftauchte. Wer wollte sich schon mit einem weiblichen Henry VIII. einlassen, noch dazu einem sehr wankelmütigen Henry VIII.?
»Tomaten«, brüllte der Obdachlose von irgendwoher. »Ihr habt alle Tomaten auf den Augen. Aber ich sage euch: Das Warten hat ein Ende! Der Untergang ist nahe.«
Auch diesmal konnte ich ihm nicht widersprechen. Mein Warten hatte ein Ende und nach Weltuntergang fühlte es sich auch an. Ich warf einen letzten Blick auf die Bahnhofsuhr, dann auf mein Handydisplay, das weder Anruf noch SMS anzeigte. Schließlich raffte ich den letzten Rest meiner Selbstachtung zusammen und setzte mich langsam in Bewegung. Ich fühlte mich, als wäre ich in den letzten Minuten um dreißig Jahre gealtert.
Die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn funktionierte nicht und wurde von einem fetten, bärtigen Mann in einem billigen Anzug blockiert, der nach Schweiß stank. Die nächste Bahn, so die Anzeige im U-Bahn-Geschoss, verzögerte sich auf unbestimmte Zeit, und hinter mir verkündete der Obdachlose weiter das Ende der Welt.
Alles war wie immer, also.
In meinem Bauch setzte das große Schmetterlingssterben ein. Einer nach dem anderen hörte auf, mit seinen Flügeln zu schlagen. Sie hatten ein kurzes Leben gehabt. Aber vielleicht war es auch besser so. Vernünftiger auf jeden Fall. Und eben viel … erwachsener.
»Kati!«
Irritiert sah ich zum gegenüberliegenden Bahnsteig hinüber, wo gerade eine U-Bahn abgefahren war. Die
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