Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
Sitzen verstreut.
Tom Howe liegt vollständig bekleidet und mit angezogenen Knien auf seiner rechten Körperseite auf dem Boden des Abteils. Sein Kopf zeigt in Richtung Abteiltür. Seine Arme sind vor der Brust verschränkt. Ein Schuh ist ausgezogen. Der Schaffner berührt Tom Howe an der Schulter, schüttelt ihn und spricht ihn an. Doch der Fahrgast reagiert nicht mehr. Er atmet nur noch schwer und röchelt. Als der Schaffner ihn auf den Rücken dreht, sieht er, dass dessen Hemd im Brustbereich voller Blut ist. Der Mann ist ratlos, denkt, dass hier ein Unfall passiert ist. Eilig verlässt er das Abteil und telefoniert mit der Notrufzentrale. Als er zurückkommt, kann er den Puls des Verletzten nicht mehr fühlen.
Auch der alarmierte Notarzt kann im Bremer Hauptbahnhof nichts mehr für den Reisenden tun. Für Tom Howe kommt jede Hilfe zu spät. Anscheinend ist er an einer Schussverletzung gestorben. In der rechten Brust erkennt der Arzt einen Einschuss.
Als ich damals den Tatort in Augenschein nahm, bemerkte ich als Erstes, dass der Einsatz des Notarztes die Spurensuche erschweren würde. Denn die Rettungssanitäter hatten Tom Howe aus dem Abteil gezogen, sein Hemd aufgeschnitten und ihn zu reanimieren versucht – und allein damit schon den Tatort verändert. Aber nicht nur das. Sie hatten auch auf dem Boden liegende Papiere und mehrere Geldscheine und Kleingeld aufgehoben, es auf die Ablage vor das Fenster gelegt, das Rollo hochgezogen und das ursprünglich geschlossene Abteilfenster geöffnet. Dadurch veränderten sie während ihres Einsatzes nicht nur das ursprüngliche Spurenbild der Tat, sondern schufen zusätzliche Spuren. Das war eine wichtige Information, die ich bei der späteren Rekonstruktion des Falls berücksichtigen musste.
Solche Trugspuren , wie sie in unserer Fachsprache heißen, sind ein generelles Problem bei der Tatortarbeit, denn nicht selten verändern Menschen, die ein Verbrechen entdecken, den Fund-oder Tatort – teils in ihrer Aufregung, teils aus Gedankenlosigkeit, teils vorsätzlich. Nicht nur Rettungspersonal, sondern auch Rechtsmediziner und Polizeibeamte hinterlassen eigene Spuren am Tatort, wenn sie sich einen Überblick über die Tat verschaffen. Deshalb müssen diese Personen vor einer Tatrekonstruktion zuallererst vernommen werden, um fatale Fehlinterpretationen zu vermeiden. Wie war die ursprüngliche Fundsituation? Welche Veränderungen an Leiche und Tatort gab es? Nicht immer bekommen wir darauf eine Antwort, denn zum einen sind möglicherweise nicht alle Personen bekannt, die am Tatort waren, zum anderen können sich einige Zeugen nicht daran erinnern, was sie verändert haben.
Weiter erschwert wird die Suche nach Täterspuren oft durch Finger-und Schuhabdrücke sowie serologische Spuren wie Speichel, Blut oder Sperma von berechtigten Personen wie Mitbewohnern, Freunden oder Verwandten. Diesen Spuren ist ja nicht anzusehen, ob sie etwas mit der Tat zu tun haben oder nicht. Im Prinzip ist erst einmal nur die Aussage zulässig, dass sich eine Person zu irgendeinem Zeitpunkt an einem Ort aufgehalten hat, der später Tatort wurde oder bereits war. Dabei hat die betreffende Person dann zum Beispiel Fingerabdrücke zurückgelassen, Blut verloren, eine Verletzung erlitten oder Geschlechtsverkehr mit einer weiteren Person gehabt oder masturbiert. Damit eine Verbindung dieser Spuren zu dem Verbrechen bewiesen werden kann, muss ich als Ermittler alle Möglichkeiten ausschließen, die eine berechtigte Existenz der Spuren erklären. Anders ausgedrückt: Ich muss den Nachweis führen, dass die vorgefundenen Spuren tatrelevant , also bei der Tat entstanden sind.
Gemeinsam mit den Beamten des Erkennungsdienstes begann ich im Eisenbahnwaggon die Spuren der Tat aufzunehmen. Im Wagen gab es zehn Abteile für Reisende, die Abteile 2 bis 11, zwei Waschräume, zwei Toiletten und das Dienstabteil für das Zugpersonal. Alle Räume mussten untersucht werden, doch unser Augenmerk richtete sich auf den eigentlichen Tatort, das Abteil Nummer 8. Wir suchten sogenannte Situationsspuren. Dazu gehören alle Spuren, die durch ihre Lage im Raum oder durch ihre Beschaffenheit Hinweise zum Tatgeschehen ermöglichen.
Zunächst mussten wir aber erneut nach der Tatwaffe suchen und Geschossteile finden, um die Frage zu klären, ob wir es tatsächlich mit einem Verbrechen zu tun hatten. Doch wir fanden weder das eine noch das andere. Wir fragten uns, was das bedeutete: Hatte der Täter nicht nur die Waffe
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