Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
ließ sich nur etwa 40 cm weit öffnen. Auf der schmalen Ablage unterhalb des Fensters stand ein Reisewecker. Außerdem lagen dort auffallend ordentlich eine Brieftasche, persönliche Papiere von Tom Howe, zwei 10-DM-Scheine, seine Fahrkarte, der Auszahlungsbeleg einer amerikanischen Bank. Wie sich später herausstellte, war dies keine Täterentscheidung.
Ein Rettungssanitäter erzählte bei seiner Befragung, dass er das auf dem Boden liegende Geld und die Papiere aufgehoben und auf die Ablage vor dem Fenster gelegt hatte. Die Weckzeit des Reiseweckers war auf 04.10 Uhr eingestellt. Achtzig Minuten bevor der Schaffner Tom Howe wecken sollte.
Unmittelbare Tatspuren fand ich unter den Papieren auf der Ablage: Blut.
Blut bedeutet normalerweise Leben. Fünf bis sechs Liter – bei Männern etwa ein Liter mehr als bei Frauen – fließen in den Arterien und Venen des Menschen und erhalten den Organismus über das Herz-Kreislauf-System mit lebensnotwendigen Funktionen.
Wenn ich mit Blut zu tun habe, dann meist in Form von »Bildern«. Damit meine ich die Blutspuren, die als sogenannte Blutspurenbilder am Tatort vom Tod eines Menschen berichten: als Tropfspuren, Abrinnspuren, Kontaktspuren, Schlagspritzspuren, Hochgeschwindigkeitsspritzspuren, Schleuderspuren oder arterielle Verletzungsspuren. Manchmal lässt sich auch aus der Gerinnung und dem Eintrocknen von ausgeflossenem Blut eine Aussage zum zeitlichen Ablauf der Tat treffen. Dann nämlich, wenn sich der Täter nach der Tat noch länger am Tatort aufhielt und dabei zum Beispiel in Blut fasste oder die im Blut liegende Leiche bewegt wurde. Denn wir wissen: Blut gerinnt nach ungefähr drei bis sechs Minuten und trocknet nach zehn bis fünfzehn Minuten.
Obwohl die Geschichte der Interpretation von Blutspurenbildern gut hundert Jahre alt ist und ihren Ausgang im deutschsprachigen Raum nahm, handelt es sich bei dieser Disziplin leider immer noch um einen vernachlässigten Bereich der Kriminalistik. Nach meinen Erfahrungen hat sich in Deutschland erst in den letzten Jahren langsam eine Rückbesinnung auf die Interpretation dieser Spurenform durchgesetzt. Für mich jedoch waren die Blutspurenbilder im Fall Tom Howe sehr wichtig.
Bei dem Blut auf der Ablage handelte es sich um Blutspritzer. Genauer gesagt waren es kleinste zerstäubte und auch spermienartig geformte Blutspuren, deren »Schwänze« fächerförmig zum Fenster wiesen. Aus dieser Form ließ sich die Auftreffrichtung bestimmen: Als die Blutspuren entstanden, musste es unmittelbar vor der Ablage zu einem Ereignis gekommen sein, bei dem aus einer Wunde mit sehr hoher Energie Blut und Gewebe in Richtung Fenster gespritzt war. Das konnte nur bei einem Schuss geschehen sein.
Eine weitere interessante Blutspur befand sich an der vorderen Kante der Ablage. Im Gegensatz zu den anderen war sie flächig und verwischt: eine typische Kontaktspur, die, bevor das Blut getrocknet war, durch eine blutige Hand oder einen blutigen Gegenstand – möglicherweise durch blutige Kleidung – entstanden sein dürfte.
Trotz dieser ersten und bedeutsamen Feststellungen galt: Den Schwerpunkt der Tatortuntersuchung bildet die Leiche. Tom Howe war eine große, stattliche Erscheinung. Rahmenlose Brille, militärisch kurzer Haarschnitt, vernarbtes Gesicht. Ein wehrhaft wirkender Mann. Seine Füße lagen jetzt circa 50 cm vom Fenster entfernt, und sein Oberkörper ragte aus dem Abteil Nummer 8 heraus. Der Tote lag auf dem Rücken, sein Oberkörper war nackt. Sonst trug er eine beige Stoffhose mit Gürtel, schwarze Socken und an seinem rechten Fuß einen braunen Slipper. Alle vier Taschen seiner Hose waren nach außen gekehrt. Hemd und Unterhemd lagen neben der Leiche und waren von oben nach unten aufgeschnitten. Auch das hatten die Rettungssanitäter getan, bevor sie mit der Wiederbelebung begannen. Auf der Brust des Toten erkannte ich noch die typischen Spuren ihrer letztendlich vergeblichen Bemühungen. Geklebte Elektroden und kreisförmige Abdrücke des Defibrillators zeigten mir, dass die Sanitäter Elektroschocks eingesetzt hatten.
Bei einer ersten Untersuchung der Leiche stellte ich die frühen Leichenerscheinungen fest: beginnende Totenstarre im Bereich der Kiefermuskulatur und entstehende Totenflecken an den abhängigen (rechtsmedizinisch für herabhängende) Körperpartien. Abgesehen vom Einschussloch wies der Körper keine weiteren erkennbaren Spuren von Gewalt auf: keine Ausschussverletzung, keine Traumatisierung des
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