Auf die feine Art
Annäherungsversuch war – schon damals sehnte ich mich nach seelenverwandten Frauen.
Sanna drehte mir einen Glimmstängel, leckte mit ihrer Zunge, rosarot wie die eines Kätzchens, über die Klebfläche, zündete das fertige Röllchen an und reichte es mir. Ich paffte ungeschickt und versuchte dreinzuschauen, als täte ich so etwas alle Tage. Es war ein warmer Abend, aber Sanna trug enge schwarze Jeans und eine verschlissene braune Lederjacke. Sie hielt ihre Bierflasche fest in der Hand, als wäre sie ihr größter Schatz. Ich hätte gern mit ihr geredet, es fiel mir bloß nichts ein. Dann quasselten die Jungs etwas von einer Kneipentour, und Sanna ging mit ihnen.
Am Abend nach ihrer Abiturfeier glotzten wir dann alle ihre Narben an. Es war mir noch genau in Erinnerung, wie sie zurückstarrte, trotzig und beschämt zugleich, wie ich versuchte, sie anzulächeln, wie sie mir einen Schluck aus ihrer Flasche anbot, als wollte sie mir danken …
Dann verschwand Sanna nach Helsinki. Dort begegneten wir uns später manchmal und grüßten uns, wie das Leute, die aus derselben Kleinstadt kommen, in Helsinki eben tun. Sie sah immer gleich aus, schlank und mädchenhaft. Nur ihr Gesicht wurde immer bleicher, es erinnerte bald an eine Totenmaske. Ich wagte ihr nicht zu sagen, dass ich die Polizeischule besucht hatte, sondern gab ihr zu verstehen, ich hätte verschiedene Jobs gehabt, bevor ich zum Jurastudium zugelassen wurde.
Ich sah sie manchmal in der Mensa beim Bier, damals, als dort noch Bier ausgeschenkt wurde, manchmal auch mit einer Zigarette vor der Uni, die uralte braune Lederjacke lässig umgehängt. Sie sagte, sie schriebe an einer Magisterarbeit über die Metaphern in Sylvia Plath’ Lyrik. Ob die Arbeit jemals fertig geworden war?
Annamari kam mit einer großen Einkaufstüte von Stockmann und riss mich aus meinen Gedanken.
»Kann ich die Papiere vielleicht doch erst später abholen? Dann komm ich mit meinem Rucksack, da sind sie leichter zu transportieren«, schlug ich vor. Ich ließ die Sachen nicht gern bei den Hänninens zurück, aber es war mir zu umständlich, sie jetzt mitzunehmen.
»Henrik ruft morgen wieder an. Was soll ich ihm denn nur sagen?« Annamari rang die Hände wie die Heldin eines alten Schauerromans.
»Erzähl ihm einfach, wie die Sache steht.« Ich erinnerte mich noch gut an Henrik Hänninens buschige, finstere Augenbrauen. Der Mann hatte etwas Teuflisches an sich.
»Ich ertrage sein Gebrüll nicht … Besteht denn gar keine Hoffnung auf Kimmos Freilassung?«
»Hoffnung gibt es immer.« Etwas anderes als diese banale Floskel fiel mir nicht ein. In Annamaris Gesellschaft fühlte ich mich eingeengt, es kam mir vor, als würde ich vor etwas fliehen, was mich ersticken wollte, als ich die von Kletterpflanzen berankte Haustür öffnete.
Ich radelte am Ufer entlang zur Mole, denn ich wollte die Stelle sehen, wo Sanna gestorben war. An jenem dunklen Märzabend war die Mole sicher einsam und verlassen gewesen, merkwürdig weit entfernt von den anheimelnden Lichtern, die sich in den Wellen spiegelten. Was mochte Sanna empfunden haben, als sie ins Wasser fiel? Ich dachte an die eisige Umklammerung des vier Grad kalten Meeres und fuhr, in Gedanken versunken, viel zu schnell über den schmalen gepflasterten Uferstreifen. Plötzlich flog ein Stein gegen das Vorderrad. Ich riss den Lenker herum – und da passierte es.
Die Lenkstange löste sich vom Gestell. Vergeblich drückte ich den Bremshebel. Alles drehte sich, Meer und Himmel purzelten durcheinander, und plötzlich lag ich im Wasser, ging unter, krallte die Finger in den sandigen Grund und sog das kalte, salzige Element in die Lungen, kämpfte mich verzweifelt an die Oberfläche.
Zum Glück war das Wasser am Ufer nur knapp einen Meter tief. Ich hatte mir nur das Handgelenk und das linke Knie verletzt. Nun hockte ich im Meer und fluchte, sah den Lenker ein Stück weiter weg auf den Wellen schaukeln. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich schon auf dem Weg zu Annamari ein etwas seltsames Fahrgefühl gehabt. Offenbar hatte sich eine Schraube gelöst …
Da erst merkte ich, wie wahnsinnig kalt das Wasser war und dass mir das Knie wehtat. Ich angelte mir den Lenker und watete zu meinem armen Fahrrad, das zwei Meter weiter geflogen war. Keuchend zerrte ich es ans Ufer. Ich war pitschnass.
Fluchend und schimpfend schob ich den Lenker in die Gabel, drehte die Schrauben fest, so gut es mit bloßen Händen ging, und fuhr vorsichtig nach Hause.
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