Auf die Ohren
klarzustellen: Das hat absolut nichts damit zu tun, dass sie ein Mädchen ist. Nicht dass einem hier eventuell noch Rock-’n’-Roll-Chauvinismus vorgeworfen wird. Robbie und Steffen haben genauso wenig zu sagen. Sie könnten die Band nicht auflösen oder ihr eine andere Musikrichtung verordnen, derart grundsätzliche Entscheidungen sind allein Christopher und mir vorbehalten. Christopher schreibt die Musik, ich schreibe die Texte, wir haben die Band gemeinsam gegründet, wir sind die Bandleader, das ist eben so, wie bei anderen Bands auch. George oder Ringo hätten die Beatles zum Beispiel nie auflösen können, das war John oder Paul vorbehalten. Wenn Rod aus den Ärzten plötzlich eine Techno-Band machen wollte, dürfte er mit Sicherheit sofort seine Koffer packen und Farin und Bela würden sich einen neuen Bassisten suchen.
Womit ich jetzt natürlich nicht sagen will, dass Clarissa austauschbar ist, auf gar keinen Fall. Sie ist unsere absolut fantastische Frontfrau und unersetzbar. Die Entscheidung, ob wir eine Ballade spielen, liegt allerdings nicht bei ihr. Und ich weiß auch schon, wie ich das regle, ohne sie sauer auf mich zu machen.
»Natürlich hast du hier was zu sagen«, sage ich. »Genauso viel wie alle anderen auch. Ich würde vorschlagen, wir lösen das wie immer mit einer Abstimmung. Wer ist dafür, dass wir Christophers neuen Song spielen?«
Clarissas Hand schnellt wild entschlossen nach oben – als einzige.
Hey, das wird ja noch einfacher, als ich dachte.
»Okay, wer ist dagegen?«, frage ich und hebe gleichzeitig meinen Arm.
Steffen meldet sich, Robbie zögert kurz, streckt dann aber auch einen Finger in die Luft. Drei zu eins, damit wäre wohl alles gesagt.
»Christopher?«, frage ich noch der Form halber.
»Ich halte mich da raus, geht schließlich um meinen Song«, sagt er.
»Aber genau deswegen musst du doch dafür stimmen!«, fordert Clarissa ihn auf.
»Das würde doch auch nichts mehr ändern, Clarissa«, stelle ich fest. »Ob drei zu eins oder drei zu zwei, die Sache ist entschieden.«
»Okay«, seufzt sie und lässt enttäuscht die Schultern sinken. »Das ist sehr, sehr schade. So ein toller Song.«
»Ach, wir haben doch noch jede Menge andere tolle Songs«, sage ich aufmunternd. »Und dank dir kommt der Typ von Sony zu unserem Konzert! Das ist jetzt nicht die Zeit, um einer Ballade nachzutrauern! Das ist die Zeit für Rock ’n’ Roll!«
Der Anflug eines Lächelns huscht über ihr Gesicht. Sie tritt an den Mikroständer und schaltet ihr Mikro an.
»Okay, Jungs«, sagt sie und erhebt ihre Stimme. »Seid ihr bereit? Seid ihr bereit für Rock ’n’ Roll?«
Christopher, Robbie und Steffen rücken ihre Gitarren zurecht und stellen sich in Position. Ich setze meinen rechten Fuß auf das Bassdrum-Pedal und den linken auf das Hi-Hat.
»Der nächste Song ist ein sehr trauriger Song«, kündigt Clarissa dem nicht vorhandenen Probenpublikum an. »Es ist eine Ballade. Die tragische Ballade eines Jungen, der so hässlich ist, dass Vögel tot vom Himmel fallen, wenn er nach oben guckt. Die Ballade vom hässlichen Ulli!«
Sie zwinkert mir grinsend zu und ich zwinkere erleichtert zurück. Sie ist offenbar nicht sauer. Und sie hat sogar Recht. Wenn man es genau nimmt, ist Ugly Ulli tatsächlich eine Ballade, allerdings nur, was den Text betrifft. Die Musik geht richtig ab, das ist eins unserer schnellsten Lieder – vor allem, wenn ich das Tempo vorgebe.
» Ugly Ulli!«, rufe ich laut und lasse meine Sticks aufeinanderkrachen. »Eins, zwei, drei, vier!«
6.
»Ist noch Kartoffelbrei da?«, frage ich.
»Ja«, sagte meine Mutter und steht auf. »Gib mir deinen Teller.«
Ich reiche ihr meinen Teller und sie geht damit an den Herd, auf dem der Topf mit dem Kartoffelbrei steht.
»Noch jemand?«, fragt sie, ohne sich umzudrehen. »Lisa? Du hast kaum etwas gegessen.«
Oh, klasse, es geht wieder los. Seit Mama vor etwa einem halben Jahr einen Bericht im Fernsehen gesehen hat, ist sie fest davon überzeugt, dass alle Mädchen unter achtzig Kilo magersuchtgefährdet sind. Was natürlich völliger Schwachsinn ist, vor allem in Bezug auf Lisa. Sie ist zwar nicht unbedingt die Kräftigste, aber sie hat mit Sicherheit kein Essproblem. Die einzigen Probleme, die sie beim Essen hat, sind eine überfürsorgliche Mutter und ein Bruder, der sich darüber amüsiert.
»Stimmt doch gar nicht«, erwidert Lisa. »Ich hatte einen Riesenteller voll.«
»Ja«, sage ich. »Einen Riesenteller voll
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